Von Flusshexen und Meerjungfrauen. Jennifer Estep. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jennifer Estep
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915564
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      Ich muss dich abhalten. Dein Körper wird den Zauber nicht verkraften. Ich muss dich beschützen!

      Lass sie gehen, flüstert das Meer mir zu.

       Damit noch eine Statue auf dem Meeresgrund steht? Neben dir? Die Reihe der gebrochenen Herzen? Er hat dir alles versprochen, und dann ist er gegangen!

       Er ist gestorben. Menschen leben nicht so lange wie wir.

       Aber er hat dich verlassen! Und dein Herz ist mit ihm gestorben!

       Ich war glücklich mit ihm.

       Aber nur für so kurze Zeit! War es das wirklich wert? Uns zu verlassen und dann selbst zu sterben, weil dein Herz menschlich geworden war?

       Ja, das war es. Ich würde es wieder tun.

      Mit zornigen Flossenschlägen jage ich durch die Wellen. Ich werde dich nicht auch noch verlieren. Schon gar nicht an jemanden, der … was? Dich nicht wirklich liebt?

       Du bist die, nach der er sich verzehrt.

      Ich hasse das Murmeln des Meeres, das sich in jeden meiner Gedanken frisst.

       Lüge, nichts als Lüge.

       Du weißt, dass es wahr ist.

       Es darf nicht sein.

       Das macht es nicht weniger wahr.

       Es darf nicht sein!

       Du hast es dir ebenfalls gewünscht.

       Doch nicht um diesen Preis.

      Mit einer letzten Anstrengung durchbreche ich die Oberfläche und erkenne, dass ich zu spät bin.

      Ein prachtvolles Schiff segelt über die Wellenkämme und ich weiß, dass du an Bord bist. Kann deine Hoffnung spüren. Du hast so lange gewartet. Ich fühle deinen Schmerz in den neu geschaffenen Beinen. Die Unsicherheit, sich auf festem Boden zu bewegen.

      Du wolltest ihn überraschen. Doch er erstarrt, als er dich in seiner Kajüte vorfindet, und ich spüre dein Taumeln, als du den Halt unter den Füßen verlierst.

      »Du bist die Falsche!«

      Erkenntnis rauscht durch deine Sinne, ich kann mit deinen Augen sehen, mit deinem Herz fühlen.

      »Du kannst mich lieben lernen«, beharrst du und blickst zu ihm auf. »Sieh, was ich für dich aufgegeben habe.«

      »Ich will dein Opfer nicht. Es ehrt mich, aber es sind nicht deine Augen, die mich jede Nacht im Schlaf anblicken. Es tut mir leid!«

      Ein Stechen lässt dich aufkeuchen. Du kämpfst dich auf die Beine, doch das Atmen fällt dir schwer in deinem neuen Körper, die Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. Da beginnt der Boden erneut unter dir zu schwanken. Dieses Mal jedoch, weil die Wellen sich erheben.

      »Wo ist sie?!«, dröhnt der Ruf meines Vaters durch die Wogen.

      »Wer hat sie mir gestohlen?«, heult der aufkommende Sturm, der das Schiff wie ein Stück Treibholz hin und her wirft.

      »Was hast du getan?«, ruft der Mann, den ich jede Nacht in meinen Träumen sehe und den ich jeden Morgen zu vergessen versuche.

      Sie taumelt auf ihn zu und ihr Herz gerät ins Stolpern, noch bevor sie in seine Arme sinkt.

      Auch das meine krampft sich zusammen. Wissend, dass der Preis, den sie für diesen Augenblick zu zahlen bereit war, höher ist, als ihr Körper verkraften kann.

      »Ich bitte nur um einen Kuss«, höre ich sie flüstern, während er sie in seinen Armen wiegt. Die Rufe der Matrosen schallen durch die Nacht und werden ihnen von den Windböen aus dem Mund gerissen. Wellenkämme brechen mit solcher Wucht auf dem Deck, dass ihr Klatschen ohrenbetäubend ist und die Planken erzittern lässt. Ich rieche Angst und Verzweiflung durch die Wellen triefen.

      Und doch scheint inmitten dieses Chaos die Welt stillzustehen, als er seine Lippen auf deine legt und dich küsst. So zart, als würdet ihr am Ufer des Meeres liegen, beschützt von der Nacht – und wäret nicht dem Untergang geweiht. Ich spüre seine Berührung auf deinen Mund. Und weiß, dass ich diejenige bin, der sie gilt. Gefangen von diesem Gefühl, erlahmt mein Widerstand, lasse ich mich von den Wellen umherwirbeln, zu gebannt von diesem Moment, der auch mein Untergang sein wird.

      »Gib sie mir zurück«, dröhnt Verzweiflung durch das Tosen des Sturms, während meine geliebte Schwester einen letzten Atemzug durch ihre zu schwache Lunge presst.

      »Bring mich nach Hause und suche sie«, höre ich dich in sein Ohr flüstern, obwohl ich viel zu weit weg bin.

      Als du ins Wasser eintauchst, erfüllt mich Leere, denn die Seele, die ich so lange behütet habe, benötigt keinen Schutz mehr. Und dann tanzt Meerschaum auf den Wellen, die das Schiff bedrängen.

      Du bist fort.

      Ein letztes Aufheulen und die wütende Raserei der Winde erlahmt.

      Er steht am Bug; und auch wenn ich weiß, dass seine Augen nur die Weite des Meeres sehen, blickt er direkt in mein Herz.

      Ich werde dich finden, echot seine Stimme in mir. In meinem dummen, verräterischen Herz, das nie darum gebeten hat, so zu empfinden.

      Ich tauche unter und fliehe.

      Das Leben im Meer ist unerträglich geworden. Mein Vater hat nicht mehr gesprochen, seit seine Tochter verschwunden ist. Ich wünschte, er hätte den friedlichen Ausdruck in deinem Gesicht gesehen.

      Manchmal höre ich deine Stimme zu mir sprechen. So wie damals, als wir in den schlimmen Nächten den Schmerzen trotzten, die dich immer wieder überfielen. Ich weiß nicht, welcher mehr quälte. Der, der in deinem Körper wütete, oder der in meinem, weil ich tatenlos zusehen musste.

      Du warst nie tatenlos, flüsterst du in meinem Herz. Du hast mir die Hoffnung geschenkt. Die Hoffnung auf eine Liebe – selbst wenn sie nie mir gehörte. Auch wenn ich es mir noch so sehr gewünscht habe. Ich danke dir dafür.

      Dein Dank macht es nicht leichter, und der Anblick deiner sich in Meerschaum auflösenden Gestalt sucht meine Träume heim, bis ich beschließe, nicht mehr zu schlafen.

      Doch das Murmeln des Meeres lässt mir keine Ruhe.

      Nun sind es allerdings andere Worte, die ich vernehme.

      Die Worte, die er in den Brief geschrieben hatte, waren für mich bestimmt, und auch wenn sie ungelesen blieben, waren sie nicht verloren, denn das Meer hatte sie aufgefangen.

       Auch wenn ich noch nie den Klang deiner Stimme vernommen habe, ist es dein Herz, das laut zu mir spricht. Das deutlicher als jedes Wort nach mir ruft. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst – deine Augen können es nicht verbergen. Ich habe ihr gesagt, dass mein Herz schon vergeben sei, und es bekümmert mich, ihre Hoffnung zu enttäuschen, doch nicht sie ist mir vorbestimmt.

       Ein letztes Mal werde ich noch in See stechen, dann bin ich frei.

       Ich werde auf dich warten.

       Egal, wie lange es dauert.

      Unablässig murmeln die Worte in meinen Ohren.

      Meinem Geist und meiner Seele.

      Verfolgen mich und suchen mich heim.

      Ich muss fort.

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