Von Flusshexen und Meerjungfrauen. Jennifer Estep. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jennifer Estep
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915564
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Auf beide Erfahrungen konnte sie bereits für ihre Bücher zurückgreifen. So spielt ihr Buch um eine kinderfangende Hexe (Amaias Lied) in Barcelona und in ihrer Trilogie Die Blutgabe geht sie das Thema Vampirismus wissenschaftlich an.

      Im September 2021 erscheint ihr nächster großer Jugendroman Euphoria City – ein Buch über die Manifestation geheimer Wünsche. Da ich das große Glück hatte, es schon lesen zu dürfen, kann ich es euch bereits heute wärmstens empfehlen.

      Obwohl Anika in der Bergstadt Oerlinghausen am Teutoburger Wald aufwuchs, bezeichnet sie sich als Wassermensch: »Im Urlaub habe ich so viel Zeit wie möglich im Wasser verbracht – oder noch lieber unter Wasser. Es fasziniert mich, wie sich die Geräusche und die Farben verändern, wie die Sonne Lichter auf den Grund malt und wie die Bewegungen gleichzeitig träge und schwebend sind.«

      Genau diese Atmosphäre fängt sie wunderbar in ihrer nachfolgenden Geschichte ein.

       www.anikabeer.de

       Der freundliche Nachbar vom See

       Aoyama-gō, Provinz Iga, Japan im August 1863,

       dem 2. Jahr der Bunkyu Ära.

      Das Schwert war weg.

      Fassungslos starrte Taro auf seine leeren Hände. Unter der zerbrochenen Planke des alten Bootsstegs, die wenige Augenblicke zuvor unter seinem Fuß nachgegeben hatte, zitterte das Wasser noch in konzentrischen Kreisen. Die leere Schwerthülle an seinem Gürtel wog wie ein Stein.

       Einfach weg.

      Der Abendwind vom See her wisperte leise im hohen Schilfgras, das den Steg umschloss. Die Zikaden hatten ihr Sommerabendlied angestimmt. Doch Taros Herz übertönte sie mit der Wucht eines Schmiedehammers.

      Yae würde ihn umbringen.

      Seine ältere Schwester hatte das Schwert selbst erst vor wenigen Wochen bei der jährlichen genpuku des Dorfes erhalten, als sie und die anderen Sechzehnjährigen von Aoyama-gō in die Gemeinschaft der Erwachsenen initiiert worden waren. Daher hatte sie sich nur sehr widerwillig überzeugen lassen, es ihm wenigstens ein einziges Mal auszuleihen. Es war umso schwieriger gewesen, da Taro mit seinen dreizehn Jahren bereits nahezu sämtliche kindliche Niedlichkeit verloren hatte, die ihm früher in solchen Fällen zugutegekommen war. Aber Yae liebte ihn dennoch wie keinen anderen, deshalb hatte sie am Ende zugestimmt.

      Und jetzt war es weg.

      Dabei hatte Taro doch bloß ein einziges Mal ausprobieren wollen, ob er die Techniken, die Mina-sensei ihn und die anderen Ninjutsu-Schüler des Tsukimi’kan Tag für Tag mit ihren Holz- und Bambusschwertern üben ließ, auch mit einer Klinge aus Stahl ausführen konnte.

      Die bittere Wahrheit war: Er konnte es nicht. Nicht mit einer deutlich zu langen Waffe, deren Griff zu dick war für seine Hände, und schon gar nicht auf dem morschen, glitschig feuchten Holz des stillgelegten Bootsstegs im Schilf, den er sich als geheimen Übungsplatz ausgesucht hatte. Und so hatte sich das Schwert bei der letzten Drehung selbst aus seinem Griff gehebelt und war mit einem unbeteiligten Platschen einfach versunken. Taro fiel auf die Knie und umklammerte mit beiden Händen die Überreste der morschen Planke, unter der es verschwunden war. Was sollte er nur tun?

      Das Wasser zitterte. Kleine Blasen stiegen an die Oberfläche und durchbrachen Taros wackelndes, verschwommenes Spiegelbild, als wolle der See ihn für seine Einfältigkeit auslachen. Als starre sein eigenes, zuvor noch so stolzes Gesicht, von den kleinen Wellen zu einer jämmerlichen Grimasse verzerrt, höhnisch zurück zu ihm herauf.

      Doch erst als eine grüne Hand platschend durch die Wasseroberfläche brach und sich dicht neben seiner an das glitschige Holz des Steges klammerte; als ein wuchtiger Kopf mit strähnigem algenbraunem Haar und glotzenden Augen folgte und Taro prustend eine Fontäne schlammigen Wassers entgegensprühte, begriff er, dass es gar nicht sein Gesicht war. Mit einem überraschten Keuchen wich Taro zurück und fiel sehr unelegant auf sein Hinterteil.

      Das Wesen starrte derweil aus blutunterlaufenen Triefaugen zu ihm hoch, die grünen Finger mit den Schwimmhäuten noch immer um die zersplitterte Planke geschlossen. »Heda, Menschenjunge. Was machst du denn für einen Lärm?«

      Ein Kappa! Taro starrte den Froschmann an. Sein Atem beruhigte sich nur langsam. Jedes Kind kannte die Geschichten über diese Wassergeister, die in Seen und Flüssen lebten und jene, die sich beim Schwimmen zu weit hinauswagten, mit sich in die Tiefe rissen. Oder die ganze Dörfer ausrotteten, indem sie aus den drei Löchern an ihrem Hinterteil unfassbar stinkende Gase entweichen ließen. Taro hatte noch nie einen Kappa gesehen und wusste nicht, wie viel von diesen Geschichten der Wahrheit entsprach, aber mit einem hatten sie in jedem Fall recht: Dieser Kappa stank zum Himmel. Nach verwesendem Seetang und faulen Eiern. Nach schimmelndem Buchweizen, der bei der Lagerung feucht geworden war.

      Das Wesen schwang sich mit einer seltsam grotesken Eleganz aus dem Wasser, blieb dem Jungen gegenüber auf der anderen Seite des Lochs im Steg hocken und glotzte Taro misstrauisch an. »Was heulst du so, he?« Seine Stimme war ein schleimiges Blubbern tief aus seinem Rachen. Selbst das stank. Nach altem Fisch.

      »Ich hab etwas verloren«, murmelte Taro beschämt und drehte sich halb zur Seite, ohne sich ganz dazu bringen zu können, den Blick von dem Froschwesen zu lösen.

      Der Kappa musterte ihn, das unförmige Gesicht in skeptische Falten gelegt. »Verloren, wie? Was könnte das sein? Und was würdest du wohl tun, um es wiederzubekommen?«

      Seine Augen waren erstaunlich klar und fast schon menschlich, wenn man sich die blutigen Tränensäcke wegdachte. Aber sein Blick, listig funkelnd und geradezu heimtückisch, jagte Taro einen Schauer über den Rücken. »Was meinst du damit?«

      Der Kappa richtete sich ein Stück auf. »Ich meine, dummes Menschenkind, dass du meine Hilfe brauchen kannst mit dem, was du verloren hast. Oder willst du reinspringen ins Wasser und es selbst suchen? Wir Kappa kennen die Strömung, die alles hinauszieht in die Tiefen des Sees. Wir kennen den Grund und die Seegrashöhlen. Was auch immer du verloren hast – ich kann dir helfen, es wiederzufinden.«

      »Ehrlich?!« Im ersten Moment wäre Taro am liebsten jubelnd aufgesprungen vor Erleichterung. Aber die Freude verging ihm rasch. Das war ein Kappa! Ein Wasserkobold, der Menschen ertränkte! »Warum solltest du das tun?«, fragte er misstrauisch. »Was willst du dafür von mir?«

      Der Kappa grinste verschlagen. »Nicht viel, gar nicht viel. Du musst mich nur im Armdrücken besiegen, dann helfe ich dir.«

      Taro dachte angestrengt nach. Davon handelten die Geschichten auch: Dass Kappa, wenn man ihnen begegnete, die Menschen gern zu einem Wettstreit herausforderten, also sagte dieser Frosch vielleicht die Wahrheit. Trotzdem musste er wachsam bleiben. Er war ja nicht dumm. »Und wenn ich verliere?«

      Das Grinsen des Kappa wurde breiter und entblößte zwei Reihen winziger, nadelspitzer Zähne. »Dann sagst du mir, was du verloren hast, und ich darf es behalten.«

      Taro musterte den Kappa von oben bis unten. Er sah schmächtig aus mit seinen mageren Ärmchen und der dürren Brust, über der die ledrig grüne Haut faltig herunterhing, als hätte der Kappa sie wie ein nachlässig angezogenes Kleidungsstück übergeworfen. Taros eigene Arme waren nicht viel weniger dünn, aber er war stärker, als er aussah, und er war deshalb selbst schon ziemlich oft im Kampf unterschätzt worden. Schwer zu sagen also, wie stark dieser Kappa wirklich war. Viel mehr Sorgen machten Taro allerdings seine listigen Augen. Er würde bestimmt nicht ehrenhaft kämpfen – was Taro grundsätzlich nicht viel ausmachte. Ehre war ein Ideal für einfältige Samurai. Die Shinobi von Aoyama-gō hatten klügere Werte. Aber es bedeutete, dass Taro noch listiger sein musste.

      Er holte tief Luft. »Einverstanden.«

      Der Kappa blinzelte ihn schlau an. »Fabelhaft. Also komm rüber