Von Flusshexen und Meerjungfrauen. Jennifer Estep. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jennifer Estep
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915564
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      Sturmböen fegten Ceto fast von den Füßen, als sie an Tessas Seite auf dem Deich stand und auf den anthrazitfarbenen Ozean hinausblickte. Weiße Schaumfelder krönten die Wellen, die sich in der Melodie des Wassers wiegten. Cetos Herz zog sich zusammen, zog sich hinein in die Leere in ihr.

      Tessa blieb zurück, als Ceto den Deich hinunter- und in die Fluten lief, das Schwert kampfbereit erhoben. Ihre Lunge füllte sich mit dem salzigen Duft der ewigen Weite um sie herum.

      Es dauerte nicht lange, bis sie das Monster entdeckte. Pechschwarz und träge schwamm das riesige Biest nur wenige Schritte von Ceto entfernt durch das Wasser. Ein Kopf erhob sich aus der Gischt und reckte sich empor. Jadefarbene Augen starrten auf Ceto herab, ein langer Hals ging in einen noch längeren Körper über, der geschützt von scharfkantigen Schuppen unter der Oberfläche ruhte. Cetos Blick huschte wie von selbst zu der Schwachstelle des Monsters – die Brust, in der sein schwaches Herz schlug. Das Wesen rührte sich nicht, es zögerte.

      Ceto griff an. Das Biest schrie und tobte, wehrte sich und schnappte mit seinem Maul nach ihr. Doch es unterlag und Ceto sah ihm nicht in die Augen, als alle Kraft aus ihm sickerte. Wellen griffen nach der leblosen Hülle, zogen sie in ihre Umarmung und schenkten dem Wesen die letzte Ruhe.

      Ceto watete ans Ufer und blickte den Deich hinauf. Tessa war verschwunden.

      Sie suchte den Hügelkamm ab und den Strand. War sie ins Dorf gegangen? Hatte sie der Anblick des Kampfes so verstört?

      Doch auch in den Straßen und ihrem Haus wartete Tessa nicht auf sie. Ceto war wieder allein.

      Mit dem nächsten Sonnenaufgang stand Ceto erneut am Strand. Dunkle Wolken hingen am Himmel, doch es regnete und stürmte nicht. Der Ozean war ein quecksilbriger Spiegel und lag still da. Zu still. Als würde er auf etwas warten.

      Ceto ließ das Schwert sinken und die Spitze tauchte in den Sand ein. Da waren keine Geräusche, die Welt hielt den Atem an. Sie sah nach oben, in Richtung des Olymps und fragte sich, ob Götter auf dem Weg zur Erde waren.

      Doch es waren nicht Götter, die sich ihr im nächsten Augenblick offenbarten.

      Wellen rauschten, Schaumkronen erblühten und vergingen, dann brach der erste geschuppte Leib durch die Oberfläche. Dann noch einer und noch einer. Seeschlangen, Kraken, Strudelwürmer und Sturmfische. Glitschige Haut, scharfkantige Schuppen und messerscharfe Zähne blitzten ihr entgegen. Alle Augen waren auf sie gerichtet, das spürte sie, auch wenn sie den Bestien nicht ins Gesicht sah. Es waren Dutzende, wenn nicht an die hundert Monster, die sich hier versammelt hatten.

      Ceto hielt wie die Welt den Atem an, als das Meer sich aufbäumte und ein weiteres Wesen ausspuckte. Es war der blaue Hippokamp, den sie vertrieben hatte. Anmutig und stolz erhob sich das Tier vor ihr. Dann senkte es den Kopf und Ceto sah die Reiterin auf dem Rücken. Vor Schreck glitt ihr das Schwert aus der Hand und landete klirrend im Sand.

      Tessa hatte sich das Aquamarinhaar zu einem Zopf geflochten, darin glitzerten Perlen, kleine Muscheln und Nadeln aus Perlmutt. Eine enge Weste schmiegte sich an ihren Oberkörper, ihre Beine steckten in dunklen Hosen, die Füße waren nackt. Sie ließ sich vom Rücken des Hippokampen gleiten und kam zum Ufer gelaufen, verließ das sichere Wasser jedoch nicht.

      Cetos Körper war wie versteinert, sie rührte sich nicht, als die junge Frau auf sie zukam. Ihre grauen Augen schienen zu glühen, als hätte der Mond ihr etwas von seinem Glanz geschenkt.

      »Ceto«, begrüßte Tessa sie mit ruhiger Stimme. Dann verneigte sie sich vor ihr. »Es ist mir eine Ehre, der Göttin der Meere und der Mutter aller Seemonster persönlich gegenüberstehen zu dürfen.« Sie richtete sich auf und ihre Miene verfinsterte sich. »Allerdings bin ich nicht hier, um Euch zu huldigen.«

      Ceto schwieg. Ihr unsterbliches, göttliches Herz schlug nur noch schwach in ihrer Brust. Lange, lange hatte sie niemand mehr so genannt, geschweige denn sich vor ihr verneigt. Jetzt verstand sie, dass sie das nicht vermisst hatte. Weil sie es nicht verdiente. Sie rührte sich nicht und wartete.

      Die junge Frau vor ihr nickte und fuhr fort. »Mein Name ist, wie Ihr schon wisst, Tessa. Ich bin eine Nereïde, eine Nymphe des Meeres.« Sie breitete die Arme aus, fasste all die Monster mit ein, die hinter ihrem Rücken im Quecksilberwasser standen. »Diese Wesen riefen mich, weil sie ein Monster fanden. Ich bin die Jägerin und hier, um Euch zu richten, Ceto.«

      Wie dumm Ceto gewesen war, Tessa nicht zu erkennen. Oder die Scharade, die sie und ihr Reittier aufgeführt hatten. Sie hätte fühlen müssen, wen und was sie vor sich hatte und woher sie kam. Doch das hatte sie nicht. Cetos Mund fühlte sich trocken an und sie bekam kein Wort heraus.

      Tessa neigte den Kopf. »Ihr seid das Monster, Ceto. Nicht Eure Kinder. Ihr tötet sie, weil Ihr ihren Anblick nicht ertragt. Ihr denkt, sie seien böse, und Ihr habt Angst davor, was das für Euch selbst bedeutet. Was es über Euch aussagt.«

      Zum ersten Mal seit Jahrhunderten sah Ceto zu den Gesichtern ihrer Kinder auf. Zu den schillernden, aber grausigen Wesen, die sie dem Meer und ihrem Mann, dem Gott Phorkys, geboren hatte. Der Anblick war unerträglich für sie, tat ihr körperlich weh. Aber keines der Geschöpfe vor ihr blickte voller Hass zu ihr zurück. In den Augen lagen Zuneigung, Enttäuschung, Wut und das bittere Verständnis für das eigene Fleisch und Blut.

      Tessa machte einen Schritt auf sie zu. »Ihr seid nicht vollkommen verloren, Ceto. In Euch steckt mehr als dieses Monster. Ihr habt mich gerettet und mich geheilt. Es gibt noch Hoffnung. Für Euch und das Dorf, das Ihr mit Euren Lügen verpestet habt. Solange jemand die Dinge hinterfragt und andere Wege sieht, gibt es Hoffnung«, sagte Tessa und Ceto rann eine Träne über die Wange, als sie an das kleine Mädchen dachte.

      Sie schüttelte den Kopf. Mit krächzender Stimme gestand sie: »Ich lebe schon viel zu lange so. Ich kann es nicht ändern.«

      Die Jägerin ging in die Knie und tauchte beide Hände unter Wasser. Als sie sich aufrichtete, hielt sie in der linken Hand einen Bogen, gefertigt aus einem Walkiefer und dem Haar einer Seehexe, in der rechten einen Pfeil aus einem spitzen Haifischzahn und einer zurechtgeschnitzten Fischrippe.

      Das Meer selbst war gekommen, um Ceto zu richten. Diese unzügelbare Schöpfung, über die sie herrschen sollte. Sie hatte es nicht kommen sehen, hatte sie nicht kommen sehen. Und das, obwohl Wasser ihr Blut und das Salz der See ihr Atem war. Sie hatte ihre Verbindung zu diesem Wunder verloren, und wie es schien, auch jene zu sich selbst. Wer war sie, sich einem solchen Urteil zu widersetzen?

      Ceto ging in die Knie, während Tessa den Pfeil anlegte. Die Kinder der Göttin schlossen die Augen und sangen ein leises Lied.

      »Lebt wohl.« Tessas Finger gaben den Pfeil frei. Er zischte auf Ceto zu, die mit keiner Wimper zuckte. Sie sah ihrem Schicksal hocherhobenen Hauptes und mit offenen Augen entgegen.

      Das Geschoss durchbohrte ihr Herz, beides löste sich in Meeresschaum auf. Von innen heraus wurde die Göttin zu dem Element, aus dem sie einst geboren worden war, zu dem sie vergehen und aus dem sie auferstehen würde.

       Sie riefen nach ihr, als sie den Weg nach Hause fand.

      Der freundliche Nachbar vom See

      Anika Beer

       Anika Beer

      Meine erste Schreibmaschine bekam ich zu meinem achten Geburtstag«, berichtet Anika Beer, Jahrgang 1983, auf ihrer Website. Sie wusste schon immer, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Inzwischen schreibt sie Romane nicht nur unter ihrem echten Namen (beispielsweise Als die Schwarzen Feen kamen), sondern auch als Franka Rubus und Ana Jeromin.

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