Von Flusshexen und Meerjungfrauen. Jennifer Estep. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jennifer Estep
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915564
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die Tür sich endlich öffnete.

      Der Kappa kam sehr vorsichtig herein, als erwartete er, dass Taro hinter der Schwelle auf ihn lauern würde, um ihm einen Stein über den Kopf zu ziehen. Als er allerdings sah, dass der Junge nur scheinbar verzweifelt in einer Ecke hockte, breitete sich ein selbstgefälliges Lächeln auf seinem Gesicht aus. »So. Hast du verstanden, dass du nicht entkommen kannst? Gut für dich. Sieh her. Ich bringe dir Essen – ich halte meine Versprechen!«

      Aber Taro hatte keinen Appetit, auch wenn sein leerer Magen sich bereits vor Hunger verknotete. Wie lange war er bloß schon hier unten? Dem Licht nach zu urteilen, war der neue Tag noch nicht angebrochen, aber lange konnte es nicht mehr dauern. Das nachtblaue Wasser begann bereits langsam seine Farbe zu verändern. Er musste unbedingt bald nach Hause. Wenn er nur irgendwie an dem Kappa vorbeikäme!

      In diesem Moment erklang, wie zur Antwort auf seine Gedanken, ein lang gezogener, durchdringender und dabei leicht blubbernder Ton. Er kam von weit her, von oben herab, gefolgt von einigen weiteren, spielerisch hüpfenden und zugleich klagenden Klängen, die sich rasch durch den ganzen See verbreiteten und das Wasser ringsumher vibrieren ließen. Der Kappa erstarrte. Und auch ohne dass er die Musik zuvor je vernommen hätte, wusste Taro augenblicklich, was er da hörte. Die Kappa-Frau ließ sich durch ihr unfreiwilliges Landexil nicht davon abhalten, ihr Morgenlied zu spielen. Vielleicht weniger als je zuvor.

      »Das ist doch nicht zu fassen!«, zischte der Kappa und schwamm halb aus der Tür hinaus, um hinauf zur Oberfläche zu starren. »Dieses Fischweib! Das tut sie nicht!«

      Es war seine Chance. Taro hatte kaum Zeit, seine eigenen Gedanken zu hören, ehe er handelte. Entschlossen packte er das Schwert mit beiden Händen und riss es aus seinem Versteck im Seegras. Dann schoss er auf den Kappa zu, der zu spät bemerkte, wie ihm geschah, und zog die Klinge von unten nach oben über den Froschkörper. In der trägen Schwerelosigkeit des Wassers schien jede Bewegung wie in Zeitlupe abzulaufen. Das Schwert nahm kaum an Geschwindigkeit auf, und als es auf die zähe, faltige Haut traf, glaubte Taro für einen Augenblick, es würde sich einfach darin verfangen und stecken bleiben, um ihm zum zweiten Mal an diesem Tag aus den Fingern zu gleiten.

      Aber nicht diesmal. Diesmal schloss Taro die Hände fest um den Griff, einen Finger nach dem anderen, wie Mina-sensei es ihm schon so oft verzweifelt zu erklären versucht hatte. Das Te-no-uchi – dieses eine, entscheidende Mal gelang es ihm. Und die Haut des Kappa riss.

      Als müsse die Zeit die zuvor verlorenen Momente wieder aufholen, ging nun alles sehr schnell. Der Froschmann brüllte auf, vielleicht vor Schmerz, vielleicht vor Schreck. Dunkles Blut, fast schwarz im nachtfarbenen Wasser, blühte in schleierartigen Blumen auf und nahm Taro die Sicht. Er spürte mehr als er sah, wie der Kappa zu fliehen versuchte, und mehr aus Reflex denn aus einer klaren Absicht heraus ließ Taro das Schwert fallen, um seinen Feind zu packen. Seine Froschfinger sanken tief in die weiche Haut ein und saugten sich schmatzend daran fest. Und als der Kappa sich mit einem Fauchen zu ihm umdrehte, um sich zu befreien, da glitt die Haut mit einem lauten Schlürfen von seinem Körper, und eine sehnige, muskelbepackte und doch zugleich fast schlangengleich dünne Gestalt kam zum Vorschein, die Taro aus einem Maul voll spitzer Zähne wütend anbrüllte, bis der ganze See unter dem dröhnenden Laut vibrierte.

      Doch schon im nächsten Augenblick weiteten sich die Augen des nackten Kappa vor Entsetzen, als ihm klar wurde, dass er ohne seine Haut nicht würde einatmen können. Mit einem kräftigen Tritt seiner muskulösen Beine drückte er sich vom Boden ab und schoss wie ein Pfeil aufwärts, wo ein erster matter Lichtschimmer den Aufgang der Sonne anzeigte. Seine zurückgebliebene Haut flatterte durch den Druck des aufgewirbelten Wassers in Taros Hand wie ein groteskes Banner.

      Taro zögerte nicht lange. Er ließ die Haut los, nahm sein Schwert wieder auf und machte sich ebenfalls auf den Weg nach oben. Dort war immer noch die Kappa-Frau, wahrscheinlich stark geschwächt von ihrer langen Zeit an Land. Und der Kappa-Mann hatte sehr deutlich seine Entschlossenheit gezeigt, sie loszuwerden. Taro fiel nur eine Möglichkeit ein, ihr zu helfen. Er musste ihr ihre Haut zurückgeben.

      Als sein Kopf die Oberfläche des Sees durchbrach, leuchtete das erste Licht des neuen Sommermorgens in funkelndem Gold auf dem Wasser. In der Bucht, umgeben von blühenden Seerosen, standen sich die zwei nackten Kappa in geduckter Haltung gegenüber, die nadelspitzen Zähne gefletscht. Sie hatten ihn anscheinend noch nicht bemerkt. Taro schwamm rasch aufs Ufer zu. Als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, schälte er sich endlich aus der Kappa-Haut, die sich überraschend leicht von seinem Körper lösen ließ und leider noch genauso stank wie zu dem Zeitpunkt, als er sie angezogen hatte.

      »Du rücksichtsloses, niederträchtiges Fischweib!«, hörte er den Kappa zischen. »Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder einen Fuß in meinen See setzt!«

      »Dein See?«, fauchte die Frau. »Meine Familie lebt hier seit Jahrtausenden! Wann bist du hergezogen, vor hundert Jahren? Das ist doch lächerlich!«

      »Und das gibt dir das Recht, mich zu terrorisieren? Gib es zu, du spielst diese Flöte nicht, weil du die Musik so liebst! Du versuchst, mich in den Wahnsinn zu treiben! Und das nur, weil dir meine Sternalgenwiese nicht gefällt.«

      »Du hast meinen Nixenkrautwald dafür ausgerissen!«, schrie die Frau. »Es hat Jahrzehnte gebraucht, ihn in Form zu bringen!«

      Der Kappa lachte höhnisch auf. »Dein dummes Nixenkrautgestrüpp! Man konnte nicht hindurchschwimmen, ohne sich die Haut aufzureißen! Nur gut, dass es weg ist! Ich werde die Reste auch noch ausrupfen!«

      Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da blies die Kappa heftig in ihre Flöte, so schrill und krumm, dass Taro und der Kappa heftig zusammenfuhren. Dann holte sie in einer fließenden Bewegung aus, als führte sie ein Schwert über den Kopf, und hieb ihrem Kontrahenten die Flöte über den Schädel, so kräftig, dass sie mit einem scharfen Knacken am unteren Ende brach. Stöhnend sackte der Kappa in sich zusammen und trieb reglos zwischen den Seerosenblättern. Die Frau stand über ihm. Plötzlich ganz still und seltsam ratlos sah sie auf ihn herab, dann auf ihre zerbrochene Flöte und schließlich zu Taro. Sie hatte blaue Augen. Unfassbar blaue, riesengroße Augen, die im Morgenlicht leuchteten. Taro hatte noch nie blaue Augen gesehen.

      »Du hast etwas, das mir gehört«, stellte sie fest.

      Taro nickte, noch völlig unschlüssig, was er von der Begegnung halten sollte, deren Zeuge er gerade geworden war.

      Die Frau streckte die Hand aus, und weil Taro nicht wusste, was er sonst tun sollte, reichte er ihr die Haut. Die Frau schlüpfte rasch hinein, innerhalb weniger Augenblicke war ihre Gestalt völlig verändert und für Taros unbedarften Blick kaum von dem Kappa zu unterscheiden, den er zuerst kennengelernt hatte. Nur die blauen Augen leuchteten immer noch.

      »Und seine?«, fragte die Froschfrau.

      »Noch unten«, murmelte Taro.

      Die Frau nickte. Dann packte sie den reglosen Kappa-Mann am Arm und verschwand ohne ein weiteres Wort mit ihm im See. Die Oberfläche schlug noch ein paar kleine Wellen. Dann wurde sie wieder glatt, als hätten hier niemals zwei zornige Wassergeister um die Gestaltung der Gärten am Seegrund gestritten.

      Taro stand noch eine ganze Weile zwischen den Seerosen, das Schwert noch in der Hand, triefnass und wie benommen. Irgendwann watete er ans Ufer und schlug sich durchs dichte Schilf, bis er den alten Steg erreichte, an dessen Pfosten noch immer sein Übergewand im Morgenwind flatterte wie ein dunkelblauer Wimpel. Auch die Schwertscheide lag noch dort. Hinter der Uferböschung war das Dorf bereits erwacht. Yae würde sicher schon nach ihm suchen.

      Taro wrang das Wasser aus seinen Haaren und band sie ordentlich wieder zusammen, zog das Übergewand an und schob das Schwert in die Scheide. Vielleicht würde er all das bald für einen seltsamen Traum halten, dachte er, als er auf die jetzt wieder völlig leere Oberfläche des Sees hinausstarrte.

      Aber in seiner Hand lag unzweifelhaft die zerbrochene Flöte der Kappa-Frau. Vielleicht war sie ja verzaubert. Ob er sie damit wieder herbeirufen konnte, wenn er sie reparierte?

      Doch obwohl Taro von diesem Tage an jeden Abend am See saß, um die zerbrochene