Bis zu ihrem Dienstbeginn war noch genug Zeit. Gemütlich schlenderte sie zur U-Bahn. Dort schien sich ganz Wien zu treffen. Was für ein Gedränge! Eine Mutter mit dem Baby auf dem Arm und dem leeren Kinderwagen vor sich, wurde unsanft gegen Marianne gedrängt. Die junge Frau hatte das weinende Baby liebevoll hochgehoben. Verzweifelt blickte sie sich um, denn ganz ungefährlich war die Situation nicht. Bei einer Notbremsung könnte das Kind gegen die Glasplatte stoßen, an der die Mutter lehnte.
Fast Gesicht an Gesicht standen sie da: Marianne und die die junge Mutter mit dem Baby. Mehr als nostalgisch sog Marianne den unvergleichlichen Duft des Kindes ein, dieses Gemisch aus Puder, Brei und zarter liebenswerter Babyhaut. Das machte sie glücklich. Es war ihr wie gestern, als Moritz so klein war, dann, zwei Jahre danach, Helene. Sie erinnerte sich daran, wie behutsam und liebevoll sich Herbert in die Säuglingspflege eingebracht hatte und wie glücklich sie beide dieses Familienglück machte. Zärtlichkeit und Scham erfüllten Marianne. Warum war sie in der Früh so Wut entbrannt davongelaufen? Was hatte sie eigentlich derart aufgebracht? Liebte sie Herbert nicht mehr? Wohin war die Romantik zwischen ihnen entschwunden? Oder gab es sie noch und wurde nur übersehen?
Mehrere Leute stiegen aus, das Gedränge nahm etwas ab. Auch die junge Mutter verließ mit ihrem Baby am Arm den Waggon. Marianne beobachtete, wie sie es draußen behutsam in den Kinderwagen legte.
›Es möge euch immer gut gehen!‹ wünschte sie ihnen von Herzen. Im Büro blieb noch Zeit, Kaffee zu trinken und etwas Gebäck vom Buffet zu holen. Sie schloss die Augen und genoss diese Gemütlichkeit, die ihr der Kaffeeduft immer vermittelte. Jeder Schluck versetzte sie in bessere Stimmung.
Der Arbeitstag gestaltete sich stressig. Es blieb keine Zeit, um über irgendetwas nachzudenken, weder über die Familie noch über Düfte oder Babynostalgie. Erst beim Heimfahren fiel Marianne der Streit mit Herbert wieder ein. Irgendwie konnte sie gar nicht mehr begreifen, was in der Früh so schlimm gewesen war. Okay, Herbert war nicht gerade ein Romantiker, aber das war er ja nie gewesen und trotzdem in seiner sachlichen Art immer liebenswert. Was ging ihr ab? Was warf sie ihm vor? Er würde erst nach ihr von der Arbeit kommen. Die Kinder noch später, weil beide an diesem Abend zu Freunden wollten.
›Wenn er es mir vorwirft, dass ich heute einfach weggelaufen bin, ist er ein Depp, dann erübrigt sich jedes weitere Gespräch. Soll er mich gern haben!‹ überlegte sie stur. Ihr Trotz war zurückgekehrt, als sie die Wohnungstür aufsperrte. Sie hoffte aber insgeheim, dass er ihr emotional entgegenkommen würde. Diesen ersten Schritt seinerseits brauchte sie, um ihre innere Verhärtung ganz aufweichen zu können. Müde ließ sie die Tasche auf den Stuhl neben der Tür plumpsen, streifte die Schuhe ab und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Dann holte sie ein Glas Wasser aus der Küche. Und sie erschrak.
Die Küche war blitzsauber aufgeräumt, das gesamte Frühstücksgeschirr in den Geschirrspüler geordnet und auf dem Tisch stand ein großer Strauß Chrysanthemen, ihre Lieblingsblumen. An der Vase lehnte eine Karte mit drei Smileys, eindeutig Helenes Stil. Auf der Rückseite stand:
»Tanze mit mir in den Himmel hinein, oder träume dich mit mir dorthin, gemütlich auf der Couch. So oder so wünsche ich mir, dass du glücklich bist. Dein Herbert. Wir wünschen dir das auch, Helene und Moritz!«
Marianne war beschämt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Gerührt beugte sie sich über den schönen Strauß und sog gierig diesen geliebten Duft ein, der sie an den Herbst erinnerte und an Ewigkeit. Dann hörte sie den Schlüssel an der Wohnungstür. Früher als gewohnt kam Herbert zurück und blieb im Vorzimmer stehen. Er hatte dort ihre Handtasche und Schuhe sofort bemerkt.
»Marianne?« rief er vorsichtig. Sie eilte aus der Küche zu ihm. Er schaute sie lauernd an. Noch wusste er nicht, wie ihre Stimmung inzwischen war, doch sie ging auf ihn zu und umarmte ihn zärtlich.
»Danke!« sagte sie leise.
»Ich danke dir! Oft bin ich so ein Holzklotz. Oft sehe ich nicht, was ich an dir habe«, entgegnete er und drückte sie innig an sich. Sie atmete seinen Duft tief ein, männlich und vertraut. Zärtlich schmiegte sie ihren Mund an seinen Hals und spürte den herben Duft des vornehmen alten Herrn aus der Kirche, obwohl Herbert ein ganz anderes Rasierwasser benutzte. Diese Erinnerung erfreute sie. Als sie Herbert über den Rücken streichelte, und die Hand genüsslich auf seinem Po ruhen ließ, spürte sie so etwas wie Wein und einen Hauch Zitronengras in ihrer Nase.
»Weißt du was, die Kinder kommen vor neun Uhr nicht nach Hause. Wie wär’s …?« fragte sie verspielt. Herbert lächelte glücklich und eilte ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Inzwischen zog sich Marianne aus und legte sich ins Bett. Er folgte ihr bereits nackt und kuschelte sich an sie. Unkompliziert und zärtlich fanden sie zu einander und fanden sich in der Ekstase der vertrauten Erotik.
Als sie dann beisammen lagen, entspannt, innig, streichelte Marianne langsam und sehr sanft über den Körper ihres Mannes. Es war so etwas wie kindlicher Duft an ihm, frisch, babyhaft, nostalgisch schön. Später gingen sie in die Küche. Beide hatten keine Lust auf Abendessen. Marianne wollte eher etwas Süßes und Herbert hatte bereits in der Arbeit gegessen. Die Kinder würden bei den Freunden etwas bekommen.
»Ein kleiner Kaffee wäre fein«, meinte Herbert, stand auf und bereitete ihn zu. Wunderbarer Kaffeeduft erfüllte sofort die Küche. Marianne schloss die Augen und spürte Heimeligkeit, Geborgenheit. Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf den Strauß Chrysanthemen. Sie neigte sich vor und sog den würzig schweren Duft dieser Blumen ein. »Ich bin glücklich«, sagte sie, als sich Herbert mit den zwei Kaffeetassen zu ihr setzte.
»Ich bin auch glücklich«, antwortete er, neigte sich zu ihr und gab ihr einen kleinen Kuss.
Dich finden
Ich ruhe tief in mir und finde dich.
Du begegnest ganz und findest dich.
Wie trockenes Land trinken wir die Tropfen
des Einsseins in der Zweisamkeit.
Wie aufblühende Knospen
entfalten wir das Ich-Sein im Du.
Ich ruhe tief in dir und finde mich.
Du begegnest dir in mir.
Genuss
»Mach dir kein Bild von meinen Gaben.
Nimm sie hin, genieße sie.
Forme nicht um,
was ich dir als Ganzheit schenke,
zerpflücke nicht die Blüten meiner Liebe«,
so spricht der Herr.
»Verkürze nicht die Liebe
durch Begriffe, die dich binden.
Du spürst die Sonne.
Sie ist so viel mehr,
als ein Wort auf dem Papier,
als gelbe Farbe in Kreisform hingemalt.
Sperre nicht die Demut ein,
die deine Liebe weit macht,
die dich sehen lehrt und zu genießen.
Genuss ist, wenn man trotzdem liebt.
Und wahrhaft frei ist, wer das erkennt«,
spricht der Herr.
Ich selbst würde so nicht denken.
Gebundene Freiheit
Freiheit ist so rätselhaft.
Sie ist mir das höchste Gut.
Und deine Freiheit hoch zu schätzen,
meine erste Pflicht.
Doch mein Herz,
dies ungezogene Ding,