in dessen Schatten ich verweile.
Im Traum, in den Gedanken
gibt es etwas,
das mich Mühsal und Trauer
vergessen lässt –
und sei es nur für kurze Zeit –
etwas Köstliches und Schönes.
Ich sehe es
und kann wieder lächeln.
Ich höre es
und werde wieder offen
für gute Worte.
Ich spüre es und weiß:
Glück ist!
Du bist es,
diese Gabe,
dieser Balsam,
dieses Wort des Heils.
Du bist es.
Dein Sein ist mir Oase
in dieser Welt.
Ein duftiger Strauß
Marianne saß schmollend in der Frühmesse. Eigentlich war es ja nicht ihre Art, an einem Wochentag in die Kirche zu gehen. Nicht einmal sonntags besuchte sie regelmäßig die Messe. Zwar war sie religiös, hatte auch die beiden Kinder im Glauben erzogen und freute sich darüber, diese spirituelle Seite mit ihrem Mann Herbert teilen und austauschen zu können, doch einen Schwerpunkt ihres Lebens stellte die Religion nicht gerade dar. Für ihren Geschmack war Herbert zwar mehr bigott als religiös, doch in den siebzehn Ehejahren hatten sich einige Kanten und Verschiedenheiten abgeschliffen und im Grunde war die Beziehung gemütlich bis harmonisch. Es plätscherte dahin sozusagen, keine Höhen, keine Tiefen. Gespräche handelten von den Kindern und deren Ausbildung, von der Renovierung des Badezimmers oder von Familienbesuchen, vor allem dem Kontakt zu den Großeltern der Kinder.
An diesem Morgen jedoch verließ Marianne fluchtartig die Wohnung, noch bevor sie das Frühstück fertig vorbereitet hatte. Sollte sich doch Herbert um das Pausenbrot der Kinder Moritz und Helene kümmern! Außerdem waren beide dazu längst selbst in der Lage mit ihren vierzehn und sechzehn Jahren! Sonderbar eigentlich, dass sie so heftig reagiert hatte. Zwar war sie recht temperamentvoll, aber Herbert in seiner gelassenen, ruhigen Art, bot ihr meist keinen Grund zu Gefühlsausbrüchen.
In ihr schlummerte wohl aufgestauter Groll, den er mit seiner Bemerkung zum Ausbruch gebracht hatte. Ihr enormer Ärger konnte vielleicht damit erklärt werden, dass sie sich eines solchen Grolls nicht wirklich bewusst gewesen war. Auf ihren Vorschlag nämlich, gemeinsam einen Tanzkurs zu besuchen, hatte Herbert gemeint, dass sie lieber einen EDV-Kurs oder Sprachkurs belegen sollte oder noch besser, dass sie die Eltern oder Schwiegereltern öfter besuchen könne, anstatt einen, seiner Meinung nach, unnötigen Tanzkurs zu absolvieren. Er jedenfalls habe kein Interesse daran, sie dorthin zu begleiten.
Ein Wort gab das andere und Marianne erkannte schlagartig, wie wenig Verständnis Herbert für das Schöne des Lebens, für dessen Sinnlichkeit und zweckfreie Fülle aufbrachte. Offenbar lag ihm auch nichts an der Freude, gemeinsam zu tanzen. Eigentlich zählte für ihn nur das Pragmatische. Spaß und Spiel waren in seinen Augen nur unnützer Tand. Dass Herbert im Laufe der Jahre immer großzügig, hilfsbereit und geduldig gewesen war, dass er Marianne eigentlich alle Entscheidungen vertrauensvoll überlassen und sich kaum in ihre liberale Erziehung der Kinder eingemischt hatte, obwohl er selbst mehr Religiosität und Disziplin bevorzugt hätte, zählte in diesem Augenblick nicht. Marianne glaubte auf einmal, in Herberts Gegenwart zu ersticken. Sie wollte nur noch weg, weg, weg.
Auf der Straße atmete sie zweimal tief durch und sehnte sich danach, allein zu sein, einen klaren Kopf zu bekommen. Frühstücken in einem Café eignete sich dafür überhaupt nicht. Eine Stunde zu früh in der Arbeit zu sein und dort einen Kaffee zu trinken, kam nicht in Frage. Sie würde dort Kolleginnen treffen und vorbei wäre es mit der Stille und dem klaren Kopf. Da läuteten die Glocken ihrer Pfarrkirche. Kurzerhand setzte sie sich zu den Wenigen, die in die Frühmesse wollten. Schon nach wenigen Augenblicken fühlte sich Marianne besser. Der zarte Duft nach Weihrauch und Kerzen, die festliche Größe dieses neugotischen Kirchenraumes, das stille Gebet der anderen, all das umfing sie und ließ etwas Frieden in ihr aufgewühltes Gemüt sickern.
Der Mesner zog an der Sakristeiglocke, alle erhoben sich. Mit ernstem, konzentriertem Gesichtsausdruck betrat der Pfarrer den Altarraum, küsste den Altar und begann die Messe mit dem Kreuzzeichen, um eine stille kurze Feier ohne Lieder zu leiten. Marianne konnte sich kaum auf die Andacht konzentrieren, aber diese Atmosphäre, die Rituale, die sanfte Stimme des Priesters und Ernsthaftigkeit der Mitfeiernden, beruhigten und besänftigten sie. Als der Pfarrer dann einige wenige Worte zum Evangelium an die Gemeinde richtete, horchte Marianne auf. Er sagte:
»Jeder Tag ist ein besonderes Geschenk und zwar ein Geschenk der Begegnung. Je inniger wir anderen begegnen können, desto besser begegnen wir uns selbst, unserer Mitte. Je mehr wir aber uns selbst begegnen, desto tiefer finden wir zu Gott, der ja in uns wohnt.«
›Mir selbst begegnen, Herbert begegnen, Moritz und Helene begegnen … Wie begegne ich wirklich?‹ fragte sich Marianne.
Beim Friedensgruß neigte sich ein ziemlich alter Herr zu ihr und gab ihr lächelnd die Hand. Der Duft herben Rasierwassers schlug ihr entgegen und blieb auch an ihrer rechten Hand haften. Marianne schmunzelte bei dem Gedanken, dass sich dieser betagte Herr so gepflegt auf den Tag vorbereitet hatte. Sie schielte zu ihm hinüber: weißes Hemd, wenn auch an den Manschetten ziemlich abgewetzt, alter, jedoch gut gepflegter Anzug, Krawatte, Lederschuhe, die einmal sehr teuer gewesen sein mussten, Jahrzehnte zuvor. Der alte Herr war im Sonntagsstaat in die Kirche gekommen. Marianne fand das rührend. Genüsslich sog sie noch einmal den herben Duft ein, der von ihm ausging.
Nach der Messe blieb sie noch ein Weilchen sitzen und ließ die Stille und besondere Stimmung auf sich wirken. Sie dachte an die Worte des Pfarrers und wunderte sich darüber, wie ruhig sie bereits geworden war. Für gewöhnlich konnte sie sich nach einem solchen Streit Stunden, manchmal sogar Tage lang nicht beruhigen.
Der Pfarrer kam und holte das Evangeliar vom Ambo. Als er Marianne erblickte, winkte er ihr kurz zu und lächelte. Sie lächelte zurück. Er wollte gerade wieder in die Sakristei zurückeilen, als ihm etwas einfiel. Rasch kam er auf sie zu, gab ihr die Hand und teilte mit, dass die Abreise für das Wochenende der Firmlinge nun doch vor der Kirche sein sollte und nicht beim Busbahnhof, dass aber jeder bereits ein diesbezügliches Mail erhalten habe.
»Ich werde es Helene ausrichten. Sie freut sich schon auf dieses spannende Wochenende«, antwortete Marianne und fühlte sich nun richtig gut gelaunt. Der Pfarrer strahlte meist eine so positive Stimmung aus. Er reichte ihr nochmal die Hand und lächelte sie freundlich an.
Als er sich dann abwandte, wehte ein frischer Duft von Zitronengras zu ihr, ein Hauch nur, aber wirkungsvoll und erfrischend.
›Duschgel? Weichspüler? Eau de Toilette? – jedenfalls köstlich!‹ schoss es Marianne durch den Kopf. Sie blickte dem Pfarrer hinterher, staunend über seine jugendliche Figur, seine geschmeidigen Bewegungen.
›Das ist ja ein echt steiler Typ!‹ bemerkte sie mehr als überrascht. Seit über zehn Jahren kannte sie ihn bereits, doch noch nie war ihr bewusst geworden, wie attraktiv und angenehm er wirkte, ja nicht einmal, dass er ein Mann war.
›Ob er eine Freundin hat? Ob er weiß, wie gut seine Ausstrahlung tut?‹ Diese Fragen beschäftigten sie und lenkten angenehm vom eigenen Unfrieden ab. Außerdem belustigte es sie, in diesem heiligen Raum nach der heiligen Messe so unheilige Gedanken zu hegen. Aber warum auch nicht? Priester sind schließlich auch nur Männer. Wie konnte sie diesen so lange übersehen? Der zarte Duft von Zitronengras war noch deutlich in ihr, dazu ein noch zarterer von Wein. Schließlich hatte der Pfarrer einen kleinen Schluck Wein bei der Messe getrunken. Marianne hing noch ein paar Minuten der Erinnerung an diese kurze Begegnung nach.
›Wie