So viele Jahre hatte Proud vergessen, wie sich das anfühlte und auf eine ihm noch immer unerklärliche Weise tat es ihm gut, wieder seiner Bestimmung zu folgen. Vielleicht war es der Sinn, den er wieder im Leben sah, statt einfach nur in den Tag hineinzuleben. Er machte das hier gern, nicht nur als Vertretung von Kyle. Inzwischen tat er es, weil er es tun wollte und weil er wusste, dass es das Richtige war. Gerade heute brauchte er den Frieden und den Trost, den er hier fand, umso mehr. Es erdete ihn, verschaffte ihm den nötigen Halt, um nicht vor der Verantwortung davonzulaufen, die mit den Nephilim kam. Wenn er seine Aufgabe hier erfüllen konnte, dann konnte er es auch dort.
Ein Lächeln glitt über seine Züge, bei diesem Gedanken, das gleich darauf in Schwermut überging. Beth war der Grund für seinen Wandel, sie hatte ihn verändert, hatte eine Kraft in ihm entzündet, die er nie für möglich gehalten hätte. Aber gerade hing ihr Leben am seidenen Faden, und er konnte nichts weiter tun als das, was er ohnehin schon getan hatte.
Es besaß eine gewisse Ironie, dass Kyle und er derart die Rollen getauscht hatten und beide Male dieselbe Frau der Grund dafür war. Kyle war immer der glorreiche Held gewesen. Ritter in strahlender Rüstung. Der Gute, der Erlöser. Trotz der ersten Wandlung zum Schnitter, die er durchgemacht hatte. Um Beth zu retten, hatte er sich dieser Hölle ein zweites Mal hingegeben. Nur, dass er diesmal nicht so schadlos daraus hervorgegangen war. Er wurde dieses Erbe nicht mehr los. Es war zu tief in ihm. Kaum einer konnte sich dessen stärker bewusst sein als Proud. Er fühlte die Dunkelheit in seinem Cousin, denn es war dieselbe, die auch in seinem Inneren pulsierte. Nur, dass er damit besser zurechtkam, weil er sie seit Jahrhunderten kontrollierte und dennoch auslebte. Er hatte es geliebt, dieses sorglose Leben. Das skrupellose Nutzen seiner Fähigkeiten. Und jetzt? Er hatte all das eingetauscht gegen die Verantwortung, die Kyle ihm auferlegt hatte, als er zum Schnitter wurde, und auch nach seiner Rückkehr war sein Cousin offensichtlich nicht in der Lage, diese wieder zu übernehmen. Im Grunde war es Proud recht, denn mit dieser Verantwortung war automatisch auch Beth gekoppelt. Er war nicht bereit, sie wieder aufzugeben. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war sie immer noch da, die Dunkelheit, und Beth war die Einzige, die es ihm ermöglichte, sie zurückzudrängen und das zu tun, was er sich entschlossen hatte, zu tun. Gleichzeitig machte nur sie dieses neue Leben erträglich für ihn. Proud fürchtete das Dunkel nicht, oder die Rückkehr dahin, o nein. Er sehnte sich sogar ein bisschen danach, wollte das sorglose Leben liebend gern zurückhaben, das er geführt hatte. Ohne Prophezeiung, ohne ständige Bedrohung und ohne dieses verdammte Pflichtgefühl, das ihm schon sein ganzes Leben lang zuwider gewesen war. Aber eines hatte sich tatsächlich geändert. Er wollte dieses Leben nicht ohne Beth. Das war der zweite Grund, warum er sie nie wieder aufgeben würde. Er liebte sie. Er liebte sie so sehr, wie er noch nie jemanden zuvor geliebt hatte. Egal, was geschah, er konnte alles ertragen, wenn sie nur an seiner Seite war.
Das Geräusch von Schritten lenkte Proud von seinen Gedanken ab. Blitzschnell verschmolz er mit den Schatten, um nicht versehentlich von der Nachtschwester gesehen zu werden, die in das Zimmer der gerade Verstorbenen eile. Aus dem Verborgenen beobachtete er die einstige Kollegin seiner großen Liebe und verspürte nicht übel Lust, ihr jetzt und hier den Hals umzudrehen. Mochte Margret auch manipuliert worden sein, trotzdem konnte er der alten Schachtel nicht verzeihen, dass sie Beth in die Hände des Feindes gegeben hatte. Ein Glück, dass Beth den Job in der Klinik inzwischen hingeschmissen hatte. Andererseits hätten sie momentan auch ernste Erklärungsnöte für die unabsehbare Dauer ihrer Abwesenheit gehabt.
Lautlos glitt Proud in das Zimmer, das Margret soeben verlassen hatte. Er blickte auf die schmale Gestalt im Krankenbett, und im selben Moment glitt die Welt von ihm ab. Es gab nur noch ihn und diesen todkranken Menschen. Wie sehr er diese Momente genoss, wo für kurze Zeit nichts anderes mehr existierte als der Übergang.
Langsam trat er näher. Es war es eine junge Frau. Erst Mitte dreißig. Mutter zweier wundervoller Kinder. Sie hätte es verdient, zu leben, aber ihr Körper war zu schwach, um sich gegen die Infektion zu wehren, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Es gab keine Rettung mehr für sie, die Medikamente schwächten sie nur noch mehr. Ihr Körper stand kurz davor, zu kapitulieren. Alles, was er tun konnte, war ihr den Übergang erleichtern und ihr die Hoffnung zu geben, ihre Familie eines Tages wiederzusehen. In diesem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr das auf der Kippe stand. Wenn sie scheiterten, gab es kein Jenseits mehr in dieser Form. Dann würden alle Seelen verloren sein.
Proud schloss die Augen. Daran wollte er nicht denken. Er durfte dieser Mutter nicht die Hoffnung nehmen. Das würde ihr den Übergang erschweren, und sie hatte genug gekämpft.
Behutsam nahm er auf ihrem Bett Platz und ergriff ihre Hand. Er strich ihr über die schweißnasse Stirn, konzentrierte sich auf ihre Gedanken, bis er ihren Namen hörte. Leila.
»Hallo Leila.« Seine Stimme klang fremd, hohl. Die Schleier näherten sich bereits und schufen einen Korridor um ihn und Leila. Ihre Lider flatterten, der Schweiß auf ihrer Haut ließ sie unwirklich schimmern, als wäre sie bereits ein übernatürliches Wesen, und zum Teil stimmte das wohl auch. Sie war … ätherisch. Wie ein Geist. Weil sich ihre Seele bereits aus der sterblichen Hülle löste.
Das Öffnen ihrer Augen erfolgte wie in Zeitlupe. Es kostete sie unmenschlich viel Kraft, ihr Bewusstsein an die Oberfläche zu bringen. Aber es war nötig, und instinktiv wusste sie es.
Als sich ihre Blicke trafen, fühlte Proud so viel Mitgefühl, dass es ihm den Atem raubte. Es war das erste Mal, dass er einen Menschen hinübergeleitete, der in dieser Welt noch einen derart starken Anker besaß. Ihre Kinder. Es war die größte Angst in ihrem Inneren und zugleich die größte Schuld. Das Wissen darum, sie allein zu lassen.
»Scht! Es ist okay.« Er küsste ihre Stirn und ließ seine Kraft in sie hineinfließen, um ihr den Frieden zu geben, den sie brauchte, um loszulassen. All die Zuversicht, dass sie ihre Familie nicht zurückließ, sondern bloß einen Schritt voraus ging, um auf sie zu warten. Sie würde sonst nicht loslassen, aber genau das musste sie.
»Es ist alles gut«, flüsterte er in ihr Ohr und half ihr, sich aufzurichten.
»Sie sind … kein Arzt«, flüsterte sie schwach.
Er schenkte ihr ein Grinsen. »Wie haben Sie das erraten? Ich hoffe, es war nicht die schwarze Lederjacke, die mich enttarnt hat.«
Sein Scherz zauberte ein schwaches Lächeln auf ihre Züge, das sofort wieder von Angst und Schmerz hinfortgewischt wurde.
»Scht! Du musst loslassen. Auf der anderen Seite ist Frieden, den hast du dir verdient. Hab’ keine Angst. Wir machen das zusammen. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Ihre Augen waren riesengroß. Die Furcht und die Schuldgefühle wollten noch nicht weichen.
Proud drehte sich um, und vor ihm öffnete sich der Vorhang. Das Jenseits war zum Greifen nah. Das Licht flutete herüber und hüllte sie beide ein. Im selben Moment fühlte er, wie sich Leila entspannte. Die Gewissheit war da, dass alles in Ordnung sein würde. Wie sehr er diese Menschenfrau beneidete. Das Versprechen des Paradieses wog alles Irdische auf. Ihm würde diese Gnade niemals zuteilwerden.
»Geh!«, sagte er sanft. Ihre Seele und seine standen Seite an Seite an der Schwelle. Leila drehte sich ein letztes Mal um. Blickte auf ihre Hülle, die in wenigen Sekunden alle Lebenszeichen verlieren würde. Fühlte sie Bedauern? Nein, nicht mehr.
»Werden meine Kinder traurig sein?«
»Sie werden dich immer in ihrem Herzen tragen.«
»Ich hab’ mich nicht verabschiedet.«
»Sie wissen, dass du sie liebst. Mehr ist nicht nötig. Ihr werdet euch wiedersehen.«
Sekunden später holte der Ton der Nulllinie Proud ins Hier und Jetzt zurück. Er war aus dem Zimmer, noch ehe Schwester Margret zurückkam. Für Leila konnte