Im nächsten Moment drehte Zeyda sich um und rannte los. Ihre Finger noch immer mit seinen verflochten, sodass er ihr folgen musste. Gemeinsam flohen sie weiter, er wusste nicht mehr, wer von ihnen die Richtung bestimmte. Er wusste nur, dass sie recht hatte und er ihren Instinkten vertrauen musste, wenn sie heil aus dieser Sache rauskommen wollten.
Beth war kalt, obwohl sie das Gefühl hatte, zu fiebern. Sie befand sich in einem unwirklichen Zustand – irgendwo zwischen Bewusstsein und Traum. Eine Art Gefangenschaft im eigenen Körper, bei der sie immer wieder abdriftete, obwohl sie sich vieler Dinge, die im Umfeld ihrer sterblichen Hülle geschahen, bewusst war.
Vor allem Prouds Nähe drang stets tröstlich in ihr Bewusstsein und gab ihr Kraft, weiter durchzuhalten, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie lange es noch dauern würde und wie sie diesen Kampf gewinnen sollte. Ein Kampf war es zweifellos. Stumm gefochten gegen unsichtbare Feinde. Aber sie gab nicht auf.
Am Anfang war es die Hölle gewesen, sich so hilflos zu fühlen. Inmitten ihrer Freunde zu sein und gleichzeitig unfähig, auf irgendeine Art und Weise Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Inzwischen hatte sich bei ihr eine Mischung aus Resignation und Akzeptanz eingestellt. Sie konnte es nicht ändern, also musste sie versuchen, das Beste daraus zu machen. Immerhin: Sie war nicht tot. Das verdankte sie Proud. Er hatte alles riskiert, war ein großes Wagnis eingegangen, indem er ihr sein Blut gab, das wusste Beth. Darum schwor sie sich, dass sein Handeln nicht vergebens gewesen sein sollte. Irgendwie würde sie erwachen. Sie wusste nur noch nicht wie oder wann.
Ihr Körper in dieser anderen, neuen Welt erschien ihr schwerelos. Vielleicht, weil sie in einem dunklen Ozean dahintrieb, der endlos in die Ferne reichte. Oder war es gar der Styx? Gab es den Fluss in die Totenwelt tatsächlich? Dann würde sein Strom sie womöglich auf die andere Seite bringen – wenn sie wirklich starb. Noch war sie nicht tot, das wusste sie. Es stand auf der Kippe, aber sie fühlte sich nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Es gab so viel, was sie ins Leben zurückrief – gleichzeitig hielten andere Dinge sie hier fest, manches lockte sie sogar, sich tiefer sinken – weiter treiben – zu lassen. Es war … einfach noch nicht an der Zeit.
Um sie herum huschten Wesen durchs Wasser – diffuse Gestalten, die sie mit ihren Sinnen nur unzureichend erfassen konnte. Deren Flüstern hallte in ihrer Seele nach. Sie erzählten von Dingen, die Beth schaudern ließen, oder die ein tiefes Verstehen in ihr hervorriefen. Vergangenheit und Zukunft, die sich miteinander vermischten. Unzählige Variationen davon, eine grausiger als die andere, nur wenige darunter, die Hoffnung gaben. Beth sah die Erde zerbrechen. Abgrundtiefe Spalten, wo sie auseinanderbarst. Feuerstürme, heißer als der Atem der Hölle. Lava, die sich ausbreitete wie ein lebender Teppich aus Glut und Asche. An anderen Orten Kälte und Eis. Völlige Stille, weil alles Leben erstarrte. Mensch und Tier in Form abscheulicher Statuen. Mitten aus dem Leben gerissen und konserviert für die Ewigkeit. In der Ferne vernahm Beth Donnergrollen. Es schwoll allmählich an, ließ ihren Körper vibrieren und erzeugte ein Summen in ihren Ohren. Orientierungslos glitt ihr Blick umher, bis sie sie sah: Die Reiter! Vier an der Zahl, deren Umhänge wie die finsteren Schwingen von Krähen hinter ihnen her wehten.
Einer saß auf einem Rappen, einer auf einem Schimmel, einer auf einem blutroten Fuchs und der letzte auf einem Falben. Mächtige Rösser, deren Hufe die Welt zum Dröhnen brachten. Jeder Tritt ließ das dunkle Meer um Beth herum erzittern. Setzte die Wellen in Bewegung, die sie weiter und weiter hinaustrieben. Fort von dem Leben, fort von ihren Lieben, fort von der Schwelle, die sie zurück hätte führen können.
Die Wesen, die sie umgaben, drängten sich immer dichter um Beth herum. Sie wusste nicht, ob sie sie beschützen wollten, oder verhindern, dass sie je wieder erwachte. Die meisten Schatten, die sich in ihre Nähe wagten, schienen weiblich, aber ganz sicher war sich Beth nicht. Es war eher eine Ahnung. Was sie spürte, war Aufregung, Erwartung, hoffnungsvolles Drängen. Es war schwer zu beschreiben. Die Energie, die sie ausstrahlten, war jedenfalls besänftigend, was Beth wieder hoffen ließ, dass ihr hier nichts Böses drohte. Immerhin schwanden die Reiter aus ihrer Wahrnehmung und auch die Katastrophen verblassten und platzten wie Seifenblasen. Alles nur Illusionen, die ihre Furcht nähren sollten. Nichts davon war bisher geschehen.
Die Geister um sie herum sprachen von der Prophezeiung. Von uralten Rätseln, Höllenkreisen und Metaphern. Beth’ Verstand war zu langsam, um zu begreifen. Später vielleicht, wenn sie nicht mehr so müde war. Für den Moment erlaubte sie diesem Wissen lediglich, ihren Körper zu fluten, ebenso wie es das Wasser tat. Immer wieder fiel der Begriff »die Schwärze«, womit offenbar der Ort gemeint war, an dem sie sich gerade befanden.
Einige der Seelen, die sie umschwirrten, kannte Beth. Bei anderen war es mehr die Ahnung, dass sie einander gestreift haben mochten. Irgendwann, irgendwo. Manchmal waren es Namen, die in ihr aufstiegen und wieder untergingen, noch ehe Beth sie greifen konnte. Hier und dort erhaschte sie ein Aufblitzen von Gesichtern, wenn sie für einen Moment innehielten. Aber immer stoben sie danach sofort davon wie ein Schwarm aufgescheuchter Fische. Ganz so, als wären sie von schrecklicher Furcht getrieben.
Allmählich begriff Beth, dass all diese Wesen verlorene Seelen waren. Genau wie sie in diesem trüben Gewässer gefangen und gestrandet. Wobei gestrandet inmitten eines Meeres wohl die falsche Bezeichnung war. Es gab kein Entkommen, es sei denn, die Nephilim erfüllten ihre Bestimmung. Genau das erwarteten die Wesen von ihr. Deshalb umschwärmten sie Beth und überzeugten sich wieder und wieder, dass es ihr gut ging und noch immer die Chance bestand, dass sie wieder erwachte. Beth wollte erwachen …, sie wusste nur nicht wie. Im Augenblick war sie so hilflos wie ein Kind im Mutterleib, darauf wartend, dass ein größeres Ganzes mit der Einleitung des Geburtsprozesses beginnt. Aber wer sollte das sein? Und wie würde es vonstattengehen? So wie damals, als man sie dem Schoß ihrer Mutter gestohlen hatte? War auch das hier Teil des Zuchtprogrammes? Es erschien ihr ebenso möglich wie absurd.
Das Einzige, was ihr Trost spendete, war die Gewissheit, nicht allein zu sein. Proud war immer bei ihr. Er füllte jede Zelle ihres Körpers. Sein Blut – seine Seele. Sie waren da. Tief in ihr verwurzelt. Sie würden für immer ein Teil von ihr sein. Beth spürte es, dass er sich sorgte. Seine Gefühle fluteten all ihre Sinne. Das Band zwischen ihnen war enger denn je, was nicht zuletzt daran lag, dass sich ihr Lebenselixier vereint hatte und ihrer beider Blut eins geworden war. Es gab absolut nichts, was Beth daran bedauerte. Nicht einmal mehr die Tatsache, dass Kyle darunter litt. Dass er sich davor fürchtete, wenn sie wieder erwachte.
Beth spürte auch seine Gegenwart. Seltener, aber doch hin und wieder. Da war diese innere Zerrissenheit. Als schlügen zwei Herzen in seiner Brust. Lebten zwei voneinander unabhängige Individuen in seinem Kopf. Der Todesengel mit der sanften Seele – und die Bestie voller Gier nach Blut und Verdammnis.
Es gab Augenblicke, da hoffte er, dass sie auf der anderen Seite bleiben würde. Sie konnte seine Gedanken hören und es betrübte sie, denn ihre Gefühle für ihn waren noch dieselben. Zu wissen, dass er bereit war, sie aufzugeben, bloß um sie nicht an Proud zu verlieren, hinterließ einen bitteren Widerhall in ihr. In anderen Momenten sehnte sich Kyle danach, sie zu berühren und ihr Trost zu spenden, träumte davon, derjenige zu sein, der sie wachküsste wie der Prinz das Dornröschen. Aber er wagte sich nicht in ihre Nähe, weil das Verlangen nach ihrem Blut noch immer in ihm brannte.
Vielleicht war es sein innerer Zwiespalt, der sie hinderte und es ihr derzeit unmöglich machte, sich an dem Band zu Proud entlang nach oben zu ziehen. Immer wenn sie es versuchte, war da dieses Gefühl von Furcht, das aus Kyles Herzen kam und wie ein Schutzschild, wie eine große Glocke, über ihr lag. Sie ein ums andere Mal zurückwarf, wenn sie versuchte, in dem schwarzen Wasser nach oben zu treiben. Sie wollte Kyle nicht enttäuschen, nicht verletzen. Aber konnte sie das letztlich verhindern? Waren die Würfel nicht längst gefallen?
Seufzend entwand sich Beth diesen sinnlosen Gedanken und zog sich tiefer in ihr neues Ich zurück. Solange sie dazu verdammt war, hierzubleiben, sollte sie die Zeit nicht mit Grübeleien vergeuden, sondern ihren Geist öffnen und lauschen. Es gab so viel zu lernen, wenn sie ihrer Bestimmung