Was ist nun Wahrheit – was Gerücht? Was wollen denn wir kleine Rädchen in diesem riesigen Getriebe schon wissen? Nichts, rein gar nichts. Nur die Unruhe ist in unseren Herzen über dieses bevorstehende Neue. Dass es kommt, ja, das wissen wir. Die Fahrzeuginspektionen – das viele Impfen in letzter Zeit – vor einigen Tagen der Feldgottesdienst, alles deutet darauf hin, dass es bald wieder losgeht. Heute Vormittag wird durchgesagt: Man solle sein überflüssiges Geld nach Hause schicken. Ach was, Geld heimschicken – wir brauchen es doch notwendig für unseren zünftigen Schafkopf, den wir gerade aufgezogen haben und den nur das Mittagessen unterbrechen kann.
Auf der nahen Landstraße wird der heiße polnische Sand immer wieder und wieder von den Bergschuhen der Jäger, den Hufen der Mulis und den Rädern der Karren gemahlen. Unser Regiment zieht in den Bereitstellungsraum ein. Wir Motorisierten liegen ja schon eine Woche hier und hatten neben anderem auch einen interessanten Dienst zu tun. Etliche Mann von der Kompanie mussten die »Grenzer«, die seit der Ziehung der Demarkationslinie im Jahre 1939 hier Dienst tun, bei ihren Patrouillen verstärken. Ein Grenzer und zwei Mann von uns, so zogen wir jede Nacht los, fünf Stunden lang, entlang dem rostigen Grenzdraht. Zur Tarnung […] mussten wir unser Mützen-Edelweiß abnehmen und über unseren Waffenrock eine Zeltplane anziehen. Die ersten Nächte waren ein böses Gestolper für uns zwei Geländeunkundige. In wie viele Sumpflöcher sind wir doch getappt – dann erschreckte uns wieder ein Rudel Wildschweine, die urplötzlich vor uns aus ihrem Versteck herausrumpelten – ein glimmender Lichtschein hinter einem Baum lässt uns zu Stein erstarren – es war nur eine alte, halbverfaulte Baumrinde […]. Als Entschädigung für solch »reizvolle« Sommernächte gab es dann des Öfteren einen kleinen Plausch mit dem Kollegen von der anderen Seite, dem russischen Grenzposten.30
Während die Landser in ihren Bereitstellungsräumen auf den Einsatz warteten, erließ Hitler einen Tagesbefehl »An die Soldaten der Ostfront«, dessen entscheidender Passus lautete:
Deutsche Soldaten!
Damit tretet ihr in einen harten und verantwortungsschweren Kampf ein. Denn: Das Schicksal Europas, die Zukunft des Deutschen Reiches, das Dasein unseres Volkes liegen nunmehr allein in eurer Hand. Möge uns allen in diesem Kampf der Herrgott helfen!
Mit ernsten Gesichtern verlasen die Einheitsführer ihren Männern diesen Tagesbefehl ihres Obersten Befehlshabers. An jenem 21. Juni 1941 hatte es den Anschein, als sollte die Sonne nicht versinken; als wollte sie ausharren und das beginnende Inferno der abertausend Waffen und Kanonen mit ihren Strahlen gespenstisch erhellen.
Mit geröteten Augen starrten die deutschen Soldaten in Richtung Osten, als jener Sonntagmorgen des 22. Juni 1941 heraufdämmerte.
Deutscher Zollgrenzschutz war des Nachts wie gewohnt entlang der Demarkationslinie patrouilliert. Da und dort zogen noch Frühnebel über die feuchte Erde und umhüllten Bäume und Sträucher, Menschen und Tiere. Auf Hochsitzen und Beobachtungstürmen saßen sowjetische Posten dermaßen apathisch, als schienen sie das heraufziehende militärische Unwetter gar nicht zu bemerken.
Der Gefreite Hegele notierte am 22. Juni 1941 in seinem Tagebuch:
Sonnenwendnacht ist heute. Um 1 Uhr werden wir zwei Horchposten zurückgeholt. Inzwischen sind auch der Zugführer Lt. Hahn und auch unser Geschützführer Obj. Schäffler, die beide schon tagelang auf Beobachtungsposten waren, wieder zurückgekehrt. Wir sind schon sehr froh darüber, denn beim ersten Einsatz möchte man gerne seine gewohnten Führer um sich haben.
An Schlaf ist nicht zu denken, zu groß ist die Spannung in uns. Allenthalben sieht man die dunklen Schatten der Gruppen und Grüppchen beisammenstehen; der nahe Angriff führt sie so zum Diskutieren zusammen. Es ist 2 Uhr. Soeben gehen die Pioniere unseres Stoßtrupps die Straße entlang. Ganz langsam und sehr leise bewegen sie sich vorwärts. Ein Gespensterzug. Kein Ton darf laut werden, damit der russische Posten ja nichts merkt. Gleich darauf erhält auch unser Geschütz den Auftrag, ebenfalls bis an den Stacheldraht vorzugehen, unter Wahrung der größtmöglichen Ruhe. Das ist nun leichter gesagt als getan, denn unser Geschütz ist ja kein MG, das man auf den Buckel nehmen kann. Die Fahrzeuge bleiben hier im Wald und kommen erst nach, wenn das Gefecht im Gange ist. Also Mannschaftszug. Je ein Kasten Panzer- und Sprenggranaten wird am Panzerschild angehängt, und nun kann die Schieberei und Zieherei losgehen. Nochmals wird jeder überprüft, ob auch alles richtig sitzt, dass nicht die Gasmaske scheppert oder der Spaten an das Seitengewehr schlägt. Der Stahlhelm wird aufgesetzt, die Bergmütze ins Koppel gesteckt. Wir schieben unser Geschütz auf die Straße und ziehen es dann hart am Rand nach vorne. Bald kommen wir ins Schwitzen; es ist eine mühevolle Arbeit, das schwere Geschütz auf dieser Landstraße vorwärtszubringen. So manches Mal will ein anfeuerndes »Ho-ruck« über die Lippen kommen, aber halt, leise, kein Ton. Erst als wir von der Straße auf das Wiesengelände abbiegen können, geht es besser vorwärts. Aber höllisch müssen wir aufpassen, um in den Löchern und Bodenwellen mit unserer Kanone kein Geschepper zu machen. Ganz verschwommen sieht man den Grenzzaun; 200 m mögen noch bis dahin sein. Dunkle Haufen liegen davor; es ist der Pionierzug. Die Jäger der 7. Kompanie, unsere Kameraden vom Stoßtrupp, kommen nun auch. […]
2.55 Uhr. Noch 20 Minuten bis zum Angriffsbeginn. Herrgott, rinnen diese Minuten heute zäh dahin. Kein Laut ist zu hören, nur bei ganz genauem Hinhören vernimmt man leises Flüstern. 20 Meter sind wir vom Grenzdraht entfernt. Vorbildlich ist die Bereitstellung unseres Stoßtrupps gelungen: Nichts hat der Gegner gemerkt. Ahnungslos stehen die russischen Posten auf ihrem B-Stand. Zwei Mann sind es – sie werden die Ersten sein, die fallen.
3.06 Uhr. Wenn man nur eine Zigarette rauchen könnte. Wolkenlos ist nun der Himmel, und mit tröstlicher Herrlichkeit strahlen die Sterne auf uns Menschlein nieder, aber immer stärker mischt sich das Silbergrau des Morgens in ihre funkelnde Pracht. […] Keine klaren Gedanken kann man fassen in den letzten Minuten – brauchte [man] auch nicht. Mit einem kleinen Gebet bitte ich unseren Herrgott, er möge mir beistehen.
3.10 Uhr. Noch 5 Minuten. Maskenhaft grau sind die Gesichter der Kameraden. Stur geradeaus ist der Blick, der Druck um das Herz wird immer stärker. Die Pioniere beginnen nun ganz leise, kaum hörbar, mit großen Scheren ein paar Gassen in den Draht zu schneiden. 2 Minuten haben wir noch; von weit her dringt der Ruf eines Tragtiers.
3.15 Uhr – endlich! Eine Hand hebt sich und gibt das Zeichen. Wie von Magneten angezogen starrt alles auf die Hand des Stoßtruppführers. Und mit dem Hochheben der Hand durchgellen zwei Schüsse unserer Scharfschützen die Nacht. Die beiden russischen Posten sinken in sich zusammen.31
Um 3.20 Uhr trat die 17. Armee mit den XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps zum Angriff an. Geschützdonner zerriss die Stille des jungen Tags. Die Artilleristen feuerten aus allen Rohren. Der Angriff auf die Sowjetunion, der sich von der Ostsee im Norden bis zu den Karpaten im Süden erstreckte, hatte begonnen.
Zunächst lief der deutsche Vormarsch mit der Präzision eines Uhrwerkes. Davon berichtet auch das »Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht« vom 22. Juni 1941:
Zwischen 3.05 Uhr und 3.30 Uhr treten die Heeresgruppen Süd (ohne 11. Armee), Mitte und Nord planmäßig zum überraschenden Angriff gegen Russland an. Im Laufe des Vormittags verstärkt sich der Eindruck, dass die Überraschung in allen Abschnitten gelungen ist. Der Gegner setzt dem Angriff zunächst nur schwachen Widerstand entgegen. An der ganzen Front gelingt es, schon in den Morgenstunden 4–5 km tief vorzustoßen und in die feindl[iche] Grenzverteidigung einzubrechen. Vor der 11. Armee, die ihre Bereitstellung beendet hat, ist der Gegner untätig, eigene Stoßtrupptätigkeit beginnt planmäßig. Bei der 17. Armee gelingt es, alle Brücken im Grenzabschnitt unzerstört in Besitz zu nehmen. Bei 6. und 4. Armee fallen die Solokija- und Bug-Brücken unversehrt in eigene Hand, um die Zitadelle Brest wird hartnäckig gekämpft. […] Die im Lauf des Tages eintreffenden Meldungen ergeben bei[m] OKH den Eindruck, dass die örtliche Überraschung gelungen ist und der Feind erst beginnt, seinen Widerstand zu organisieren. Größere feindl[iche] Truppenbewegungen sind noch nicht festzustellen. Der Meldung über feindl[liche] Marschkolonnen aus dem Raum um Drohobycz gegen