Bis Anfang Mai 1941 waren alle Teile des XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps und der 1. Gebirgs-Division nach einem Bahntransport über Wien, Preßburg und Kaschau in der nördlichen Slowakei im Raum von Presov – Krynica – Neu Sandez versammelt. Meist wurde nachts gefahren und marschiert, um den deutschen Aufmarsch so lange wie möglich zu verschleiern. Zwischen den Waldkarpaten und der Hohen Tatra – also unweit der historischen Schlachtfelder aus dem Ersten Weltkrieg – warteten die Infanteristen und Gebirgsjäger dann auf die weiteren Befehle.
Zunächst dankte Generaloberst Halder dem Kommandierenden General und seinen Truppen am 24. Mai 1941 »zum Abschluss für die bisher geleistete mustergültige Vorbereitung« und gab der Erwartung Ausdruck, »dass der deutsche General-Stab auch im kommenden Feldzug wieder Vorzügliches leisten werde.«24
Die Regimenter, Abteilungen und Bataillone der 4. Gebirgs-Division, die vorläufig noch für ein paar Tage dem XXXXIV. Armeekorps unterstellt war, waren nach mühevollen Tag- und Nachtmärschen vom Ausladebahnhof Humenné über den Dukla-Pass in die Gegend von Rzeszow verlegt worden. Das geschah teilweise in vier Fuß- und drei motorisierten Marschkolonnen, die der 100. leichten Infanterie-Division in Richtung deutsch-sowjetischer Demarkationslinie folgten.
Ende Mai 1941, als die ersten Vorbefehle für das »Unternehmen Barbarossa« bei der Truppe eingingen, schwirrte die Luft von Gerüchten. Es war eine Zeit, in der das Wort »Latrinenparole« groß geschrieben wurde.
»Nur Grenzsicherung im Osten«, meinten die unverbesserlichen Optimisten und spielten weiter Karten, als ginge sie der ganze unheimliche Aufmarsch, der sich da vor ihren Augen vollzog, nichts an.
»Krieg gegen Stalin«, raunten die anderen, die Pessimisten, hinter vorgehaltener Hand.
»Warum ausgerechnet gegen Russland?«, warfen die politisch Interessierten ein. »Deutschland und die UdSSR haben doch erst im August 1939 einen Nichtangriffspakt abgeschlossen. Wer wird denn da wort- und vertragsbrüchig werden?«
»Das Ganze ist als Ablenkungsmanöver für eine bevorstehende Landung auf den Britischen Inseln gedacht«, dozierte ein Oberjäger, der seinerzeit bei den Vorbereitungen für das dann doch wieder abgebrochene Unternehmen »Seelöwe«, der vorübergehend geplanten Invasion auf den Britischen Inseln, dabei gewesen war.
»Vielleicht geht es nach Indien«, meldete sich plötzlich jemand zu Wort.
»Wieso nach Indien?«
»Um das britische Weltreich von Russland aus im Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent zu schlagen«, kam die nicht ganz abwegige Antwort.
Doch allzu lange brauchten die Landser sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, denn die militärischen Aktivitäten steigerten sich so sehr, dass auch der Letzte einsah, dass ein neuer Waffengang bevorstand. Karten und Merkblätter, die sich ausschließlich mit Russland befassten, wurden nun an die Truppe ausgegeben. Als es Anfang Juni in Richtung Osten ging, löste sich die ungeheure Anspannung. Die Skeptiker, die an kein schnelles Ende des Krieges glauben mochten, sollten einmal mehr Recht behalten.
Der Stab des XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps hatte sich in Lancut im märchenhaft anmutenden und gut ausgestatteten Barockschloss des Grafen Potocki einquartiert. Der freundliche und hilfsbereite Adelige und seine Mutter, eine geborene Radziwill, die beide fließend Deutsch sprachen, wohnten in einem Seitenflügel und fuhren täglich mit zwei Lakaien aus. Der Dienstbetrieb verlief fast ungestört und friedlich. Er wurde aber zunehmend hektischer, als sich der ungefähre Angriffsbeginn erahnen ließ. In dieser Zeit besuchte General Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtführungsstabes seinen jüngeren Bruder Ferdinand. Dieser war Generalstabschef des XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps. Nun kamen für das Korps und damit auch für die unterstellten Divisionen die entscheidenden Anweisungen für den 22. Juni 1941. Es war der Tag des Angriffs auf die Sowjetunion. Die Spannung wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher.
»Das wird ein Unternehmen, das weder Deutschland noch die Welt je erlebt haben«, triumphierte der Chef des Wehrmachtführungsstabes.
»Das wird unser Verhängnis«, antwortete der Kommandierende General überaus pessimistisch.25
In dieselbe Kerbe schlug der Architekt der deutschen Gebirgstruppe später, als ein hoher SS-Mann davon sprach, dass die deutschen Operationen aufgrund des schnellen Vorstoßes der Panzer so weit über den Ural hinausgehen würden, dass dieser bald ein Teil des Großdeutschen Reiches sei. Darauf gab Kübler zu bedenken, dass die Panzerwaffe ohne begleitende Infanterie nicht viel wert sei. Weil die Infanterie aber bedeutend langsamer sei als die motorisierten Teile einer Armee, sei der schnelle Vormarsch zum Ural fraglich.26
Am 12. Juni 1941 traf beim Gebirgs-Artillerie-Regiment 79 der Befehl für den Vormarsch aus dem Raum um Lancut in den Raum südostwärts von Tarnograd ein. Am folgenden Tag bereitete sich das Regiment für den Abmarsch vor. Wiederum einen Tag später fuhr das Quartiermacher-Vorkommando voraus. Durch Regenfälle war der Zustand der Straßen sehr schlecht. Alle Ortschaften waren mit Truppenteilen belegt.27
Der Kommandeur der II./Gebirgs-Artillerie-Regiment 79 nahm daraufhin an einer von General Lanz geleiteten Erkundung an der sowjetischen Grenze in der Gegend südostwärts von Dzikow teil. »Wir beobachten, dass auf der feindlichen Seite besonders Frauen und Kinder mit Peitschen zum Bauen von Schützengräben gezwungen werden«, heißt es in der Batteriegeschichte.28
In aller Frühe des 15. Juni traf die II. Gebirgs-Artillerie-Abteilung über Zolynia und Lecajsk in Podklasztor ein. Erwähnenswert ist nach einer Eintragung im Kriegstagebuch der Gebirgsartilleristen die wundervolle, von Mönchen im Jahre 1680 gebaute Orgel in der schönen Klosterkirche von Podklasztor. Von dort erfolgte um 23 Uhr der Weitermarsch der Gebirgsartillerie über die Straße Miastro – Kurylowka – Kulno nach Lzyskow. Tags darauf erreichte die Stabs-Batterie und die 5. Batterie den Westteil von Lzyskow; die 4. und 5. Batterie den Wald westlich von Lzyskow. Noch am selben Tage marschierten die Gebirgsartilleristen der 1. Gebirgs-Division über Tarnograd nach Konsoy Ulica, das nach zwanzig Kilometern erreicht wurde.
Am Abend des 17. Juni zog die Gebirgsartillerie über Dobrupol ostwärts. Die Vormarschstraße bestand aus schlechten Wegen und Knüppeldämmen sowie aus fußtiefem Schlamm. Tags darauf kamen die Stabs-Batterie und die 4. Batterie in Dzikow-West an, die 5. und 6. Batterie in Cewkow-Ost. Um 8.30 Uhr erfolgte die Einweisung der Batterie-Chefs und der Batterie-Trupps im Gelände und in den Bereitstellungsräumen der II. Gebirgs-Artillerie-Abteilung durch den Kommandeur.
Am 19. Juni blieb die II./Gebirgs-Artillerie-Regiment 79 in den erreichten Quartieren. Alle Vorbereitungen für ein schnelles und reibungsloses In-Stellung-Gehen wurden getroffen. Vorsichtig und unauffällig erkundete der Abteilungskommandeur die auf einer freien Anhöhe dicht vor dem sowjetischen Grenzraum liegenden B-Stellen. Aus Tarnungsgründen musste diese Erkundung in den Uniformen der Grenzbeamten durchgeführt werden. In der Nacht vom 19. auf den 20. Juni wurden die Geschütze, die Munition und anderes Kriegsgerät in den Bereitstellungsraum vorgezogen.
Bis zum 20. Juni 1941 bezogen auch die Gebirgs-Jäger-Regimenter 98 und 99 sowie das der 1. Gebirgs-Division zugeteilte Infanterie-Regiment 188 und die Divisions-Artillerie ihre gut getarnten Sturm- und Feuerstellungen. Jeder Landser hatte dabei das beklemmende Gefühl, dass er an der Schwelle eines gewaltigen Ereignisses stand, das das Schicksal eines jeden Einzelnen entscheidend bestimmen würde. Trotz ihres Selbstvertrauens wurden die Infanteristen von etwas Unfassbarem, fast Erdrückendem befallen. Denn sie erahnten sehr wohl die unendliche Weite des sowjetrussischen Raumes, die Stärke der Roten Armee, die Leidenschaft und Opferbereitschaft des russischen Volkes und den Fanatismus der kommunistischen Kommissare.
Der 20. Juni war mit weiteren Angriffsvorbereitungen ausgefüllt. Um 21.40 Uhr kam der