Nicht umsonst bekannte Winston Churchill nach Kriegsende: »Amerika und England verhinderten es allein, dass Hitler nicht Stalin hinter den Ural zurücktrieb.«19
Wie sah nun der Angriffs- und Aufmarschplan der Deutschen und die Verteidigung der Sowjets aus, vor allem im Südabschnitt der Ostfront? Darüber hinaus werfen wir auch einen Blick auf das Kräfteverhältnis im Mittel- und Nordabschnitt der Ostfront, um die Operationen der Heeresgruppe Süd in Verbindung mit der mittleren Heeresgruppe besser nachvollziehen zu können. Beginnen wir zunächst im Südabschnitt der Ostfront bei den Deutschen und ihren Verbündeten:
Die Heeresgruppe Süd stand unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt – und zwar mit der 11. Armee des Generalobersten Ritter von Schobert, der 17. Armee des Generals der Infanterie von Stülpnagel, der 6. Armee des Generalfeldmarschalls von Reichenau und der Panzergruppe 1 des Generalobersten von Kleist sowie mit der 2. und 4. rumänischen Armee mit 32 Infanterie-, 5 Panzer- und 4 motorisierten deutschen und 16 rumänischen Divisionen. Die Heeresgruppe Süd, die durch die Luftflotte 4 des Generalobersten Löhr unterstützt wurde, hatte den Auftrag, den Schutz der rechten Heeresflanke mit der 11. Armee und rumänischen Truppen sicherzustellen und den Angriff aus dem Raum Lublin in Richtung Kiew mit der 17. und 6. Armee vorzutragen. Dabei sollten Panzerkeile der Panzergruppe 1 vorauseilen, um den Gegner abzuschneiden, einzukesseln und entlang des Dnjepr aufzurollen.
Die dem Südabschnitt der Ostfront zugewiesenen Armeen hatten ihre Aufmarschräume von Norden nach Süden wie folgt bezogen: Die 6. Armee zwischen Lublin und Przemysl, die 17. Armee zwischen Przemysl und Tomaszow, die Panzergruppe 1 hinter den inneren Flügeln der beiden vorgenannten Armeen, die 11. Armee beiderseits von Jassy in Rumänien. Sie lag zwischen der 3. und 4. rumänischen Armee eingeschoben, während ungarische Brigaden im Karpatenraum sicherten.
Die Heeresgruppe Mitte stand unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall Fedor von Bock – und zwar mit der erst später unterstellten 2. Armee des Generalobersten Freiherr von Weichs, der 4. Armee des Generalfeldmarschalls von Kluge, der 9. Armee des Generalobersten Strauß sowie der Panzergruppe 2 des Generalobersten Guderian und der Panzergruppe 3 des Generalobersten Hoth mit 31 Infanterie-, 1 Kavallerie-, 9 Panzer- und 7 motorisierten Divisionen. Die Heeresgruppe Mitte, die durch die Luftflotte 2 des Generalfeldmarschalls Kesselring unterstützt wurde, hatte den Auftrag, aus dem Raum Warschau vorzustoßen und den Feind in Weißrussland zu zersprengen, um anschließend gemeinsam mit der Heeresgruppe Nord gegen Leningrad zu operieren.
Die Heeresgruppe Nord stand unter dem Oberbefehl des Generalfeldmarschalls Wilhelm Ritter von Leeb – und zwar mit der 16. Armee des Generalobersten Busch und der 18. Armee des Generalobersten von Küchler sowie mit der Panzergruppe 4 des Generalobersten Hoepner mit 20 Infanterie-, 3 Panzer- und 3 motorisierten Divisionen. Die finnischen Verbände, die an diesen Kämpfen teilnahmen, unterstanden nicht dem deutschen Kommando. Die deutsche Heeresreserve bestand aus 22 Infanterie-, 2 Panzer-, 2 motorisierten und einer Polizei-Division. Die Heeresgruppe Nord, die durch die Luftflotte 1 des Generalobersten Keller unterstützt wurde, hatte den Auftrag, von Ostpreußen aus ins Baltikum vorzustoßen, um dann im Zusammenwirken mit schnellen Truppen der Heeresgruppe Mitte Leningrad und Kronstadt zu nehmen.
Wechseln wir an dieser Stelle kurz die Fronten, um uns über den Aufmarsch der Sowjets zu informieren. Wir beginnen auch hier wieder im Südabschnitt der Ostfront.
Die Heeresfront »Südwest« stand unter dem Oberbefehl von Marschall Semjon Michailowitsch Budjonny mit einer Gruppe von 11 Schützen-, 1 Kavallerie-, 2 Panzer- und 7 motorisierten Divisionen zwischen Pruth und Dnjestr; mit einer zweiten Gruppe von 27 Schützen-, 17 Kavallerie-, 3 Panzer- und 4 motorisierten Divisionen dahinter gruppiert bis zum Slutsch sowie mit einer dritten Gruppe von 12 Schützen-, 3 Kavallerie-, 1 Panzer- und 3 motorisierten Divisionen zwischen Slutsch und Bug. Der Auftrag für die sowjetische Heeresfront »Südwest« lautete: Zunächst Abwehr. Alle weiteren Maßnahmen waren dann gemäß den sich ergebenden operativen Lagen zu treffen.
Der deutschen Heeresgruppe Mitte lag die sowjetische Heeresfront »West« unter Marschall Semjon Konstantinowitsch Timoschenko mit 36 Schützen-, 8 Kavallerie-, 2 Panzer- und 9 motorisierten Divisionen gegenüber. Zwei Drittel dieser Verbände lagen im Raum Bialystok, ein Drittel bei Minsk. Der Auftrag für diese Heeresfront lautete: Zunächst Abwehr, dann Ausweichen.
Die Heeresfront »Nordwest«, auch »Baltikum« genannt, stand unter dem Oberbefehl von Marschall Kliment Jefremowitsch Woroschilow. Sie lag mit 7 Schützen-Divisionen ostwärts und südlich von Ostpreußen sowie mit 22 Schützen-, 2 Kavallerie-, 2 Panzer- und 6 motorisierten Divisionen bzw. Brigaden tief gestaffelt im Raum Wilna – Kowno – Pleskau. Ihr Auftrag lautete ebenfalls: Zunächst Abwehr, dann Ausweichen.
Die Rote Armee sollte sich anfangs defensiv verhalten. Das Prinzip der sowjetischen Verteidigung bestand nämlich darin, Raum aufzugeben, um erstens Zeit zu gewinnen und zweitens die deutschen Truppen immer tiefer in die gewaltige russische Landmasse hineinzuziehen. Der weite Raum sollte – wie einst die Franzosen im napoleonischen Russlandfeldzug – die Deutschen aufsaugen, zermürben und schließlich verschlingen.
Darüber hinaus rechneten die Sowjets mit gravierenden Fehlern in der deutschen Strategie. »Der schwerwiegendste war die Unterschätzung der Möglichkeiten der Sowjetunion und der Fähigkeit der Roten Armee, nicht nur den Überfall der feindlichen Kriegsmaschine abzuwehren, sondern sie auch zu zerschlagen«, heißt es in einem Abriss zur Geschichte der UdSSR. »Die nazistischen Führer, die ihre Hoffnungen auf den ›Blitzkrieg‹ setzten, unterschätzten die Möglichkeiten der sowjetischen Wirtschaft und ihre Fähigkeit, in kurzer Zeit alle Arbeitsreserven und materiellen Hilfsquellen für den Kriegsbedarf zu mobilisieren.«20
Endziel des deutschen Angriffsplanes war jedoch, »Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen«21, um den Krieg noch vor Einbruch des russischen Winters und vor dem Wirksamwerden der umfangreichen alliierten Pacht- und Leihgesetz-Lieferungen zu beenden.
Nach Ansicht des Sowjet-Marschalls Gretschko musste die UdSSR »einen Schlag von ungeheurer Wucht auffangen«. Denn Deutschland verfügte zu dieser Zeit über ein militärökonomisches Potenzial, das außer auf die eigene Wirtschaft auch noch auf die Ressourcen der okkupierten Länder Westeuropas zurückgreifen konnte. Die Deutschen verfügten nach Meinung des Sowjet-Marschalls zum Beispiel »vor Beginn der Aggression gegen die UdSSR über 2- bis 2,5-mal mehr Kapazitäten zur Erzeugung von Metall- und Elektroenergie und zur Kohleförderung als die Sowjetunion. Die deutsche Industrie lieferte 1941 mehr als 11 000 Flugzeuge, über 5000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 30 000 Geschütze und viele andere Kampftechnik und Bewaffnung.«22 Und der Sowjet-Marschall Kyrill Semjonowitsch Moskalenko resümierte: »1941 war die faschistische Wehrmacht die stärkste der kapitalistischen Welt. Sie hatte große Erfahrungen in der Führung von Gefechtshandlungen und verfügte über ein gut ausgebildetes Generals- und Offizierskorps. Sie hatte gut organisierte Stäbe und war vollständig mobilisiert.«23
Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, ja stellenweise hautnah miterleben, welcher Seite es am schnellsten gelungen ist, dem Gegner das Gesetz des Handelns zu diktieren, ihn zum Kampf zu stellen und – was das Ziel jeder militärischen Operation ist – ihn zu besiegen.
3.
Der Aufmarsch
Der Aufmarsch des deutschen Ostheeres umfasste von Ostpreußen über die Slowakei und Galizien bis Rumänien fast 3 Millionen Soldaten. Bei Beginn des Russlandfeldzuges war das XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps des Generals der Infanterie Ludwig Kübler mit der 1. Gebirgs-Division des Generalmajors Hubert Lanz, der 68. Infanterie-Division des Generalmajors