Die alte Dame ging in solchen Fällen nie von ihrer gewohnten Weise ab, und da diese Zeremonie schon drei Sommer hintereinander, ohne das geringste Abweichen von der Regel, ausgeübt worden, so war sie ein wenig überrascht, als jetzt der fette Junge, statt wieder fortzugehen, nur einige Schritte von der Laube wegtrat, sich behutsam nach allen Richtungen umsah und dann ganz verstohlen und mit ungemein geheimnisvoller Miene wieder umkehrte.
Die alte Dame war furchtsam, wie es die meisten alten Damen sind, und so kam sie sogleich auf den Gedanken, der gedunsene Junge führe einen Mordanschlag gegen sie im Schilde, um sich in den Besitz des Kleingeldes, das sie bei sich trug, zu setzen. Sie würde daher um Hilfe gerufen haben, wenn ihre körperliche Gebrechlichkeit ihr nicht schon längst die Kraft zum Schreien benommen hätte, und mußte sich damit begnügen, Joes Bewegungen mit den Gefühlen unaussprechlicher Todesangst zu beobachten, die sich keineswegs milderte, als der Junge ganz dicht an sie herantrat und ihr mit einem – wie es schien – drohenden Ton ins Ohr schrie:
"Missus!"
Das Schicksal wollte es, daß sich in demselben Augenblick Mr. Jingle im Garten erging und sich gerade in unmittelbarer Nähe der Laube befand. Er hörte den lauten Ruf und blieb stehen, wozu er durch dreierlei Gründe veranlaßt wurde – erstens, weil er nichts andres zu tun hatte, zweitens, weil seine Neugierde kein Bedenken kannte, und endlich, weil seine Person durch Gestrüpp verborgen war. Wie gesagt, er machte halt und horchte.
"Missus!" schrie der fette Junge.
"Ach, Joe", sagte die alte Dame zitternd, "ich bin dir gewiß stets eine gütige Gebieterin gewesen und habe dich immer aufs freundlichste behandelt. Du hast nie viel arbeiten brauchen und doch jeden Tag genug zu essen gehabt."
Letzteres war ein Appell an Joes Gefühlsleben. Er schien auch wirklich gerührt und entgegnete mit Nachdruck:
"Ich weiß."
"Was kannst du denn noch von mir wollen?" fragte die alte Dame, etwas ermutigt.
"Es wird Sie kalt überlaufen, wenn ich's Ihnen sag", erwiderte Joe.
Das klang wie ein ziemlich blutdürstiger Dankesgruß, und da sich die alte Dame über die Art, wie sich die Sache weiter abwickeln könne, nicht klarwerden konnte, kehrten alle ihre Schrecken wieder.
"Was meinen Sie wohl, hab ich gestern hier in dieser Laube gesehen?" fragte der Junge.
"Barmherziger Himmel! Was?" rief die alte Dame, beunruhigt durch die Feierlichkeit des korpulenten Jünglings.
"Der fremde Herr – der mit dem zerschoßnen Arm – hat sie geküßt und umarmt."
"Wen, Joe, wen? Ich hoffe doch nicht eine der Mägde?"
"Schlimmer als das!" brüllte der Junge in das Ohr der alten Dame.
"Wie, gar eine meiner Enkelinnen?"
"Noch schlimmer!"
"Noch schlimmer, Joe?" versetzte die alte Dame, die schon ein solches Unterfangen für das Nonplusultra männlicher Verwegenheit betrachtete. "Wer ist's gewesen, Joe? Ich muß es unbedingt wissen."
"Miß Rachel."
"Was?" rief die Dame in schrillem Tone. "Sprich lauter."
"Miß Rachel", brüllte der fette Junge.
"Meine Tochter?"
Der fette Junge bejahte die Frage mit öfters wiederholtem Kopfnicken, wobei seine aufgedunsnen Backen wie Sülze erzitterten.
"Und sie ließ sich's gefallen?" rief die alte Dame.
Ein Grinsen stahl sich über die Züge des dicken Burschen.
"Sie küßte ihn wieder."
Hätte Mr. Jingle den Ausdruck, den das Gesicht der alten Dame bei dieser Mitteilung annahm, sehen können, so wäre er höchstwahrscheinlich in ein Gelächter ausgebrochen, das seine Anwesenheit notwendigerweise hätte verraten müssen. So aber lauschte er aufmerksam weiter und vernahm nur einige abgebrochene Sätze wie: "Ohne meine Zustimmung!" – "In ihren Jahren!" – "Ich arme, unglückliche Frau!" – "Hätte sie nicht warten können, bis ich tot bin." Dann hörte er die Stiefelsohlen des fetten Jungen im Sande knirschen und sich entfernen.
Es war ein merkwürdiger Zufall, aber dessenungeachtet eine Tatsache, daß Mr. Jingle schon in den ersten fünf Minuten nach seiner Ankunft in Manor Farm den Entschluß gefaßt hatte, unverzüglich Beschlag auf das Herz der jungfräulichen Tante zu legen. Er besaß hinreichend Scharfblick, um zu bemerken, daß sein keckes Benehmen dem schönen Gegenstande seiner Wünsche keineswegs mißfiel, und glaubte annehmen zu dürfen, daß sie auch im Besitz des wünschenswertesten aller Erfordernisse, nämlich eines unabhängigen Vermögens, sei. Die gebieterische Notwendigkeit, seinen Nebenbuhler auf eine oder die andre Weise auszustechen, tauchte rasch in seiner Seele auf, und so entschloß er sich, ohne Verzug die zweckdienlichen Hebel in Bewegung zu setzen. Fielding sagt, der Mann sei Feuer und das Weib Stroh, und der Fürst der Finsternis bringe sie miteinander in Berührung, um sofort eine helle Flamme auflodern zu lassen. Mr. Jingle wußte, daß junge Männer bei alten Jungfern dasselbe sind, was die Lunte für das Schießpulver ist, und so nahm er sich vor, ohne Zeitverlust auf eine Explosion hinzuwirken.
Über diesen wichtigen Entwurf brütend, schlich er sich aus seinem Schlupfwinkel und näherte sich unter dem Schütze des vorerwähnten Gesträuches dem Hause. Das Glück schien seine Absicht zu begünstigen, denn eben verließ Mr. Tupman mit den übrigen Herren den Garten durch eine Seitentür, und die jüngeren Damen hatten, wie er wohl wußte, gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang angetreten. Die Luft war also rein.
Die Tür des Speisezimmers stand halb offen. Er blickte hinein. Die jungfräuliche Tante saß mit ihrem Strickstrumpf drinnen. Er hustete; sie sah auf und lächelte. Unschlüssigkeit, gehörte nicht zu Mr. Jingles Charaktereigenschaften. Er legte die Finger geheimnisvoll an die Lippen, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.
"Miß Wardle", begann er mit erkünsteltem Ernst, "entschuldigen meine Zudringlichkeit – kurze Bekanntschaft – keine Zeit zu Zeremonien. – Alles entdeckt!"
"Sir!" entgegnete die Jungfrau, ein wenig überrascht über diese unerwartete Annäherung und voll Zweifel, ob der Mann nicht am Ende verrückt sei.
"Pst!" warnte Mr. Jingle mit einem theatralischen Flüstern. "Dicker Junge – Knödelgesicht – runde Augen – Spitzbube!" Nachdrücklich schüttelte er den Kopf, und die Jungfrau zitterte vor Aufregung.
"Ich vermute, Sie spielen auf Joe an, Sir?" sagte sie und nahm sich zusammen, um gefaßt zu erscheinen.
"Jawohl, Ma'am, verdammter Junge! – Falscher Hund – verriet alles der alten Dame – alte Dame wütend – rast – tobt – Laube – Tupman – Küssen und Umarmen – und dergleichen. – Ma'am, wie?"
"Mr. Jingle", sagte die alte Jungfer, "wenn Sie mich beleidigen wollen – "
"Aber nein – nicht im geringsten – hörte die Geschichte – kam her, Sie vor der Gefahr zu warnen – Dienste anzubieten – Skandal zu vermeiden. Nicht zu denken an Beleidigung. – Will augenblicklich wieder gehen." Und er wandte sich um, als wolle er seine Drohung unverzüglich ausführen.
"Aber was soll ich tun?" jammerte die arme alte Jungfer, in Tränen ausbrechend. "Mein Bruder wird rasen!"
"Läßt sich denken!" entgegnete Mr. Jingle nach einer Pause. "Wird wütend sein."
"Ach, Mr. Jingle, was soll ich sagen?" rief die Tante verzweifelt.
"Sagen Sie, er hat geträumt", riet Mr. Jingle kaltblütig.
Ein Hoffnungsstrahl dämmerte in der Seele Miß Wardles auf. Mr. Jingle bemerkte es und nahm seinen Vorteil wahr.
"Pah, pah! – Nichts leichter als das. – Verwünschter Heimtücker – bezaubernde Dame – fetter Junge wird mit der Hundspeitsche traktiert – Ende vom Lied – alles in Ordnung."
Miß