Und nun zu dem Gefährten, den du für dich gewählt hast. Du hast das Einhorn gewählt, und das Einhorn, Kriegsprinzessin, steht für den Tod.«
Ein Schauer huschte über ihren Rücken.
»Der Tod? Unsinn, ich habe mich nicht für den Tod entschieden!«
»Aber natürlich hast du das.«
Sie sah hinüber zu dem Einhorn, das einige Schritte weiter geruhsam Gras rupfte.
»Es fühlt sich nicht an wie der Tod. Eher wie ein ganz lebendiges ...« Sie warf die Hände in die Luft. »Wie das Leben! Du weißt, was ich meine, oder? Du behauptest schließlich, in meinem Kopf zu sein!«
»Leben und Tod liegen dicht beieinander. Sie können sich auf der Klinge deines Schwertes begegnen. Manche fürchten den Tod, und manche fürchten das Leben. Manche lieben den Tod und leben trotzdem – und manche lieben das Leben und müssen sterben.«
»Das klingt schrecklich klug, aber trotzdem ...«
»Der Tod ist eine gute Wahl, Kriegsprinzessin. Er ist die stärkste Kraft in diesem Bild, stärker sogar als die Zeit, denn sie, die nur für die Lebenden gilt, hat keine Macht über ihn. Die Zeit endet, wo der Tod beginnt. Du fürchtest ihn nur, weil du ihn nicht kennst.«
»Ich kenne den Tod! Meine Mutter ist gestorben, als ich klein war, und ...«
Einer, der leblos ins Geröll geschleudert wird. Eine Axt, die Funken schlägt, ehe sie zwischen den Steinen zum Liegen kommt. Und keiner mehr, der sie führt ...
»Ich kenne den Tod«, sagte sie mühsam. »Und er fühlt sich gänzlich anders an.«
Der Spielmann lächelte begütigend.
»Hast du deinen Gefährten verloren?«
»Nein, aber ...«
»Dann kennst du den Tod nicht. Du hast nur seine Nähe gespürt. Aber der Trick ist: keine Angst zu haben.«
»Na gut, nur ... was genau willst du von mir? Was soll ich tun? Ist das hier eine Prüfung? Wenn es eine ist, dann gib mir ein Schwert!«
»Es ist gut, Kriegsprinzessin. Es war eine Prüfung, wenn du es so nennen willst, und du hast sie bestanden, ganz ohne jemanden in Stücke zu hauen.«
»Und jetzt?«
»Erwartest du eine Belohnung?«
»Ich erwarte einen Sinn! Eine Erklärung!«
Der Spielmann lächelte wieder sein trauriges Lächeln.
»Aber es gibt so viele Dinge, die einfach passieren. Gibt es einen Sinn? Einen göttlichen Plan, oder werkeln wir alle nur so vor uns hin und erfinden unsere eigene Geschichte, während wir gehen?«
Er sah hinüber zu dem Einhorn, und es näherte sich leise und legte die Schnauze auf Liannas Schulter. Automatisch strich sie über die weichen Nüstern. Der warme Atem tröstete sie.
»Schließ deine Augen«, sagte der Spielmann, und Lianna gehorchte. Wind kam auf und kroch ihr kalt unter die Kleider. Die Stimme des Spielmannes kam von ferne.
»Der Tod ist das Leben – nur von der Rückseite betrachtet.«
Sturm heulte in ihren Ohren und zerrte an ihrem Mantel. Schwindel überfiel sie, und sie machte einen taumeligen Schritt, der in etwas stecken blieb. Sie riss die Augen auf. Sie stand bis zum Knie im Schnee, ein eisiger Wind strich über ihre Wangen. Rund um sie erhoben sich hohe, stumme Gestalten gegen den Himmel. Bäume. Wald.
Wie, bei allen Göttern, kam sie hier her? Und wo war sie? Und warum war es dunkel? Es konnte höchstens Mittag sein.
Sie drehte sich um sich selbst, auf der Suche nach einer Orientierungsmarke. Einige Schritte entfernt war der Schnee aufgewühlt, die Spuren jedoch schon wieder von einer neuen Schneeschicht überzogen. Eine glatte, quadratische Fläche zeichnete sich unter der Schneedecke ab.
Der Stein.
Der neunmalkluge Spielmann, der sie mit Sprüchen über den Tod versorgt hatte. Die Prüfung, oder was immer es gewesen war.
Was, bei allen Göttern, war nur mit ihr passiert?
Die Kälte biss ihr in die Finger, und sie steckte die Hände in die Taschen, auf der Suche nach ihren Handschuhen.
Sie fand keine – dafür aber etwas, das ihr völlig unbekannt war. Warm und schwer lag es in ihrer Tasche, und als sie es hervorholte, schimmerte es matt im Mondlicht. Es war ein Kristall, beinahe so groß wie ihre Handfläche, durchsichtig und klar wie Wasser und zu einer flachen Linse geschliffen. Er saß in einer kunstvoll verschlungenen Fassung aus dickem gelbem Gold.
Um Einzelheiten erkennen zu können, war es zu dunkel. Lianna strich mit den Fingerspitzen über den seltsamen Fund. Was mochte das sein? Woher kam es? War dies etwa die Belohnung für die seltsame Prüfung, deren Sinn sie noch immer nicht verstanden hatte? Und wozu war es gut? Es war kein Schmuckstück, man konnte es nicht tragen, es erfüllte auch sonst keinen sichtbaren Zweck.
Sie ließ das Fundstück in die Manteltasche zurückgleiten. Sie brauchte Licht und Ruhe, um hinter seine Geheimnisse zu kommen, und dafür musste sie zuerst zurück ins Lager.
Der Schwarze war nicht mehr in Sichtweite. Sie pfiff nach ihm und watete durch den Schnee hinauf zur Straße. Der Schnee zeigte ihr eine Hufspur, die sich auf der Straße von ihr entfernte. Lianna konnte nur hoffen, dass der Schwarze nicht den ganzen Weg zurück ins Lager gelaufen war, denn dann würde es ein langer Heimweg werden.
Doch wenn er es getan hatte – müsste der Wald dann nicht voller Leute sein, die sie suchten? Das Lager musste doch kopfstehen, wenn das Pferd der Prinzessin reiterlos zurückkam.
Sie lauschte. Die Stille um sie herum war vollkommen. Leise fluchend machte sie sich auf, den Hufspuren zu folgen.
Einige Zeit später fand sie den Schwarzen. Er hatte einige niedrige Zweige von einer Tanne gerissen und kaute darauf herum. Als sie ihn rief, fuhr sein Kopf in die Höhe und er begrüßte sie mit einem dunklen Wiehern, das nach Liannas Eindruck entschieden vorwurfsvoll klang. Erleichterung überschwemmte sie, sie legte die Arme um seinen mächtigen Hals und drückte das Gesicht in seine Mähne, während er ihr seinen warmen, nach Tannennadeln riechenden Atem in den Nacken blies. Sie lobte und liebkoste ihn ausgiebig, dann schwang sie sich in den Sattel.
»Gehen wir«, sagte sie, und der Schwarze setzte sich gehorsam in Bewegung.
Nach einigem Suchen fand sie ihre Spuren vom Vormittag wieder. Sie waren halb zugeschneit, aber das Mondlicht goss sie mit blauen Schatten aus und zeigte ihr so den Weg zurück ins Lager.
Es war ein kalter Ritt durch den nächtlichen Wald. Lianna war müde. Sie kam nicht dahinter, womit sie nun eigentlich den Tag verbracht hatte. Hatte sie geträumt? Wo war sie gewesen? Käme sie ein zweites Mal in die merkwürdige Kammer, wenn sie einen Blutstropfen auf den Stein fallen ließe? Und wozu diente die ganze Vorrichtung? Sie fand, der Spielmanns-Wächter hätte mit Erklärungen ruhig großzügiger sein dürfen.
Je länger sie ritt, desto ratloser wurde sie. Warum suchte man sie nicht? Machte man sich denn gar keine Sorgen, wenn sie bis in die Nacht wegblieb?
Sie erreichte den Waldrand und ließ die dunkle Masse der Bäume hinter sich. Der Schwarze fiel in Trab. Schnee stäubte unter seinen Hufen. Sie überquerten einen Hügel, und dahinter, in einer Mulde, lag das Wagendorf. Nirgends waren berittene Suchtrupps zu sehen, obwohl im Wagendorf noch Licht brannte. Etwas abseits glommen die Reste eines großen Feuers.
»Na toll«, schimpfte Lianna leise, obwohl sie sich eher verletzt und ratlos als wütend fühlte. »Die vermissen mich überhaupt nicht.«
Sie trieb den Schwarzen den Hügel hinunter und hatte sich bereits auf eine gute Bogenschussweite dem Dorf genähert, als sich ein Reiter aus den Schatten der Wagen löste und in ihre Richtung galoppiert kam. Sie zügelte den Schwarzen und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen,