»Du Flittchen«, hörte sie ihn keuchen, während sein nach Alkohol stinkender Atem sie schier betäubte. »Du Zwergenhure! Du hast die ganze Familie in den Dreck gezogen!«
Er fasste über ihren Kopf hinweg, etwas Blitzendes geriet in ihr Gesichtsfeld, und endlich erwachten ihre Kampfreflexe, sie warf sich zur Seite, entkam seinem Griff und rollte vom Tisch auf den Boden, wo ein heftiger Fußtritt in die Rippengegend sie traf, bevor sie auf die Beine kam. Blut lief ihr aus der Nase über das Kinn und tropfte in den Pelzkragen ihres Mantels. Van Ranessa stand zwischen ihr und der Tür, den Dolch in der Faust, den er aus der Tischplatte gezogen hatte. Lianna musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass es keinen weiteren Fluchtweg gab. Das kleine Fenster klemmte schon seit Jahren. Sie tastete nach dem Messer unter ihrem Mantel, aber sie brachte es nicht über sich, es zu ziehen. Ein Teil ihres Bewusstseins begriff immer noch nicht, was da vor sich ging. Der Mann, der ihr mit wutverzerrtem Gesicht und blanker Klinge gegenüberstand, war der gleiche, der sie am Feuer in seinen Armen gewiegt hatte, er hatte ihr Gutenachtgeschichten erzählt und sie getröstet, wenn sie vom Pferd gefallen war, er konnte doch unmöglich eine Klinge gegen sie richten.
»Papa«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte unbeherrscht, »überleg doch mal, was du da tust. Du willst mich doch nicht wirklich töten, oder? Du bist betrunken. Vielleicht denkst du noch mal drüber nach.« Sie hörte selbst, wie albern ihr Vorschlag klang.
»Du hast die Familienehre zerstört«, erwiderte Van Ranessa, sie hörte, wie der Alkohol seine Worte verschliff. »Du hast mein Leben zerstört und das Ariks. Du hast unsere ganze Zukunft zerstört.«
»Das habe ich nicht! Niemand hätte es erfahren müssen. Vielleicht hätte ich Arik geheiratet und die ganze Sache irgendwann vergessen. Aber ihr musstet es ja ans Licht zerren! Warum habt ihr das getan? Erin hat gepetzt, und dann habt ihr meinen Wagen durchsucht, stimmt’s? Erzähl mir nicht, ihr hättet es durch Zufall gefunden!«
»Wir wollten dich zurück auf den rechten Weg holen! Wir hatten ja keine Ahnung ... Wie hätten wir denn annehmen können ... Der dreckige kleine Steinfresser!« Er spie in Richtung der Zeichnung, die auf den Boden gefallen war. »Ehrenmann, dass ich nicht lache! Den Hals werde ich ihm aufschneiden, sobald ich ihn kriege!«
»Du wirst ihn nicht kriegen«, erwiderte Lianna. Der Gedanke an Thork war tröstlich. »Jedenfalls nicht, ohne unter jedem Berg auf dieser Welt nach ihm zu schauen.« Mit dem Handrücken wischte sie sich Blut aus dem Gesicht und betastete vorsichtig ihre aufgeplatzte Unterlippe, in der dunkler Schmerz pochte.
»Was wollen wir denn jetzt machen«, fuhr sie leise fort, sie konnte immer noch nicht glauben, dass der gegen sie gerichtete Dolch eine ernst gemeinte Bedrohung sein sollte, und tatsächlich senkte Van Ranessa die Klinge, langsam, als würde er nachdenken.
»Verlasse mein Haus«, sagte er schließlich. »Das ist es, was du tun wirst. Verlasse mein Volk und meine Familie, und kehre nicht mehr zurück. Nie mehr. Ich spreche dich von den Ranessa los. Du bist keine mehr von uns. Du hast Zeit, bis diese Kerze niedergebrannt ist.« Er deutete auf ein Talglicht, das bereits kürzer als Liannas kleiner Finger war. »Solltest du danach noch hier sein, werde ich dich töten lassen.«
Lianna starrte ihren Vater an, fassungslos, die Bedeutung seiner Worte sank erst ganz allmählich in sie. Er machte einen Schritt zur Seite, um ihr die Tür frei zu geben, und sie begriff, dass er es ernst meinte. Mechanisch setzte sie sich in Bewegung. Als sie an ihm vorbei kam, hielt sie inne, um ihm ins Gesicht zu sehen. Es war verschlossen und beinahe maskenhaft starr, und den Funken Versöhnung, den sie sich erhofft hatte, fand sie nicht.
Sie öffnete die Tür und kletterte die drei Stufen hinunter in die kalte Nacht. Mit einem Gefühl der Unwirklichkeit, als hätte sie einen schlimmen, sehr lebhaften Traum, ging sie hinüber zu ihrem Wagen, betrat ihn, machte Licht und sah sich um.
Was packte man ein, wenn man plante, nie wieder zurückzukommen?
Sie öffnete ihre Kleidertruhe, warf den Inhalt auf den Boden und wühlte dann ratlos darin herum. Sie hatte noch immer nicht das Gefühl, gänzlich in der Wirklichkeit angekommen zu sein. Sie begann wahllos, Dinge in ihren Rucksack zu stopfen, der nach kürzester Zeit überquoll.
»Soll ich dir helfen?«
Lianna erschrak fast zu Tode. Es war Elva, die in der Tür stand. Lianna hatte sie nicht kommen hören.
»Ja«, sagte sie und trat gegen den Rucksack, so dass er umfiel und Teile seines Inhalts wieder von sich gab. »Ich könnte jemanden mit klarem Kopf gebrauchen.«
»Er hat dich rausgeworfen, statt dich zu töten«, stellte Elva fest und zog die Tür hinter sich zu. »Du liebe Zeit«, fügte sie mit einem Blick auf Liannas Gesicht hinzu. »Und vorher hat er dich noch ordentlich verprügelt, wie man sieht.« Sie kam zu Lianna, drehte ihr Gesicht ins Licht und untersuchte die Verletzungen vorsichtig. »Ich würde sagen, du kannst in mehr als nur einer Hinsicht Hilfe brauchen.«
»Ist sie gebrochen?« Erschrocken betastete Lianna ihre Nase, an die sie gar nicht mehr gedacht hatte. Offenbar war ihr Geist derzeit nicht in der Lage, mehr als einen Schrecken gleichzeitig zur Kenntnis zu nehmen. »Sie ist doch nicht gebrochen, oder?«
»Nein«, beruhigte Elva sie und drückte sie auf einen Stuhl. »Bleib sitzen. Ich kümmere mich um den Rest.«
Sie wusch Lianna das Blut vom Gesicht und versorgte die Platzwunde, dann leerte sie Liannas Rucksack vollständig aus und begann, ihn aufs Neue zu packen.
»Du brauchst vor allem warme Sachen«, erklärte sie. »Um leichte Sommerkleidung kannst du dich kümmern, wenn es so weit ist. Das heißt, wenn du bis dahin nicht zurück bist.«
»Das werde ich nicht sein«, sagte Lianna undeutlich, da sie sich ein mit Heilkräutern versetztes Tuch gegen den Mund presste, um die Blutung zu stillen. »Ich werde niemals zurückkommen. Ich bin eine Ausgestoßene.« Sie empfand nichts bei diesen Worten, es war, als spräche sie über eine Fremde.
Elva warf ihr einen kurzen Blick zu und beugte sich dann wieder über ihre Arbeit. Ihre Stimme klang brüchig, als sie weiter sprach.
»Du wirst Geld brauchen. Nimm all deine Ersparnisse mit.«
»So etwas habe ich nicht. Wofür hätte ich bisher etwas sparen sollen?«
Elva seufzte tief. »Dann Schmuck. Davon hast du mehr als genug. Du kannst ihn in jeder größeren Stadt verkaufen. Na los«, fügte sie hinzu, als Lianna sich nicht vom Fleck rührte. »Such ihn zusammen und tu ihn in einen Beutel!«
Lianna erhob sich gehorsam und tat, wie ihr geheißen. Elva packte währenddessen den Rucksack und zwei Satteltaschen voll.
»Ich habe dir die wärmsten Kleider eingepackt, die ich finden konnte«, erklärte sie und stellte das Gepäck zu einem Haufen zusammen. »Die zwei Schlafdecken kannst du an den Sattel schnallen, genauso wie das Seil hier. Der Kleinkram ist obenauf im Rucksack, Kamm, Seife, Feuerstein, Zunderschwamm und diese Dinge. Den Beutel mit dem Schmuck solltest du am Körper tragen. Und pass gut drauf auf. Hast du deine Waffen?«
»Ja«, sagte Lianna und nahm ihr Schwert vom Tisch.
»Gut. Panzer?«
»Nein.«
»Grundgütige Götter! Dann hol ihn bitte!«
Gehorsam tauchte Lianna unter ihr Bett und fischte den leichten Lederpanzer hervor, der noch die Spuren des Trolls trug.
»Zieh ihn an«, befahl Elva. »Das ist die einfachste Art, ihn zu transportieren.«
Lianna schlüpfte in das Wams aus zähem Leder, das sich perfekt ihren Körperformen anpasste, und schloss die seitlichen Schnallen, sie tat es automatisch, während ein Teil von ihr sich immer noch weigerte zu begreifen.
»Warte hier«, sagte Elva. »Ich hole dein Pferd.«
Lianna blieb zurück und starrte auf das ordentlich gestapelte und verschnürte Gepäck.
Das