»Am besten du reitest hinüber nach Wiesenheim und suchst dir einen Gasthof, der dich noch aufnimmt. Es ist schon spät, aber der eine oder andere sollte noch geöffnet haben«, gab sie mit erstickter Stimme ihre letzten Anweisungen. »Hier«, sie reichte Lianna ein Beutelchen hinauf, in dem es klingelte. »Das sollte reichen, bis du deinen Schmuck verkauft hast.«
»Danke«, sagte Lianna.
»Lass dich mal wieder blicken, ja?«, bat Elva. Lianna lächelte schmal.
»Wie soll ich denn das anstellen?«
»Schick mir eine Nachricht. Nenn mir einen Treffpunkt, und ich werde hinkommen. Ich muss erfahren, ob es dir gut geht. Versprich mir, dass du das tust.«
»Ich versprech’s.«
Sie schwiegen einen Augenblick und sahen sich an. Das Talglicht im Wagenfenster ihres Vaters flackerte, die Flamme schwand zu einem Fünkchen.
»Ich muss los«, sagte Lianna. Elva ließ widerstrebend die Zügel des Schwarzen los und machte einen Schritt auf die Seite.
»Was ist dein Ziel?«
»Hochstahl«, sagte Lianna, die sich bis zu diesem Augenblick selbst nicht darüber im Klaren gewesen war.
»Viel Glück.« Elva wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Verdammt! Ich hoffe, er ist es wert.«
»Wiedersehen«, sagte Lianna, wendete endlich den Schwarzen und trieb ihn voran.
»Schick mir eine Nachricht!«, rief Elva hinter ihr her, und sie hob bestätigend die Hand, sah sich aber nicht mehr um.
Sie spürte einen leichten, fernen Schmerz unter der Betäubung, die sie noch immer im Griff hielt. Energisch trieb sie den widerstrebenden Schwarzen voran. Der Himmel war wolkenlos und von Sternen übersät, und der halbe Mond spendete ein blasses, fahles Licht, das gerade ausreichte, damit sie ihren Weg fand. Die Zukunft lag neu und unbeschrieben vor ihr wie die glatte, unberührte Schneedecke, die der Schwarze durchpflügte. Alles war plötzlich anders, alles war möglich geworden. Sie erschrak vor dem Gedanken und schüttelte ihn schnell ab. Zu viel für den heutigen, unglaublichen Tag. Sie würde morgen über diese neue Zukunft entscheiden. Oder übermorgen. Oder irgendwann.
Etwas würde sich schon ergeben.
Als Haldur von Kech durch das Große Tor ins Freie trat, blinzelte er erstaunt und schützte die Augen, die nicht mehr an Tageslicht gewöhnt waren, mit der Hand. Es war ein strahlend sonniger Tag, der Himmel war hoch und durchsichtig blau, und die ganze Oberstadt lag dick eingepackt in knietiefen Schnee. Er schüttelte den Kopf. Als er zuletzt hier oben gewesen war, hatte noch der Herbststurm nasse braune Blätter durch die Straßen gefegt. Man nahm das Verstreichen der Zeit anders wahr, wenn man sich im Stein befand, diese Erfahrung hatte er oft gemacht, aber sie überraschte ihn immer wieder. Im Stein war Zeit eine Sache des Kalenders und der Stundengebete, etwas Unsichtbares, das gemessen wurde, während hier, an der Oberfläche, sich die Jahreszeiten mit schwindelerregendem Tempo abwechselten.
Haldur von Kech fröstelte und zog seine dunkelgraue Priesterrobe enger um sich. Wind. Ach ja. Er drückte Schwaden von Rauch aus den Schornsteinen hinunter in die Straßen und zupfte an seinem langen, schneeweißen Bart.
Er war zu selten hier oben. Er wusste gar nicht mehr, was vor sich ging in der äußeren Welt. Früher, so erinnerte er sich, als er ein junger Mönch gewesen war, der gerade seine Weihe empfangen hatte, war er viel gewandert. Jahrhunderte waren verstrichen seither. Die Welt hatte sich gewandelt. Und er war schon lange nicht mehr gut zu Fuß.
Der Schnee auf der Hauptstraße war niedergetreten und knirschte unter seinen Stiefeln. Als er in die Seitenstraße einbog, die hinter zum Schmiedebach führte, wurde das Vorankommen mühsamer. Wenige gingen hier, und er musste sich seinen Weg durch den tiefen Schnee bahnen. Er hörte schon das Klappern des Wasserrades. Der Bach war also noch nicht völlig zugefroren.
Haldur von Kech hielt inne und legte eine kurze Verschnaufpause ein, als das niedrige Haus am Ende der Straße in Sicht kam. Sein Vorhaben war zutiefst unerfreulich. Die Brüder hatten ihm davon abgeraten, diesen Weg persönlich zu machen, viele hatten sich erboten, statt seiner zu gehen, sie waren der Ansicht, derlei sei nicht Aufgabe eines Priors, und für einen Augenblick bereute er, dass er diese unangenehme Aufgabe nicht jemandem übertragen hatte, der jünger und belastbarer war als er.
Er erreichte das Haus, rückte seine Robe über den mit den Jahren des Studiums schmal gewordenen Schultern zurecht und klopfte.
Nichts geschah.
Er klopfte erneut, diesmal kräftiger.
Ein Rumpeln antwortete aus dem Inneren.
Haldur, der schon halb zu hoffen begonnen hatte, dass niemand hier sei und er damit die unangenehme Aufgabe verschieben oder schließlich doch delegieren könnte, atmete tief durch.
Zu Haus war er. Fragte sich nur, ob er auch ansprechbar war.
Es dauerte lange, bis der Riegel von innen zurückgeschoben wurde und die Tür sich öffnete.
Haldur erschrak zutiefst, als er des anderen ansichtig wurde. Die üble Rede, die über Thork Eisenfels im Umlauf war, schien sich zu bewahrheiten. Er lehnte schwer im Türrahmen, sein gesundes Auge war verschwollen, der Blick trüb, und er blinzelte in das helle Tageslicht, als bereitete es ihm Schmerzen. Er trug seine Augenklappe nicht, und Haldurs Blick wurde unwillkürlich von der tiefen, leeren, vernarbten Augenhöhle angezogen, obwohl er sich redlich bemühte, nicht hinzustarren. Das rötliche Haar hing ihm wirr ins Gesicht, und sein Bart war länger als früher, offenbar hatte er aufgehört, ihn zu stutzen. Sein schmutziges Hemd stand über der Brust offen. Alles in allem bot er einen traurigen Anblick.
»Guten Morgen, mein Sohn«, sagte er sanft, während Mitleid in ihn strömte. Was mochte passiert sein, das einen respektablen, wenn auch eigentümlichen Zwergen in einen solchen Zustand versetzen konnte?
»Ehrwürdiger Vater«, murmelte Thork, offenbar mindestens ebenso erschrocken wie Haldur selbst.
»Darf ich eintreten?«, fragte Haldur.
»Ja«, sagte Thork, »natürlich«, und machte einen unsicheren Schritt von der Tür zurück, um Haldur einzulassen. Haldur schüttelte den Schnee vom Saum seiner Robe und trat ein.
Das Haus befand sich in wenig besserem Zustand als sein Bewohner. Haldur erinnerte sich, dass Thork immer ein großer Freund von Ordnung und Sorgfalt gewesen war – eine Eigenschaft, die er mittlerweile ganz offenbar abgelegt hatte.
Haldur zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mit leisem Stöhnen. Der ungewohnte Fußmarsch steckte ihm in den Knochen, und mit leisem Unbehagen dachte er an den Rückweg.
»Setz dich«, forderte er Thork auf, der unsicher im Raum stehen geblieben war. »Wir haben einiges zu besprechen. Das heißt, wenn dein umnebelter Geist in der Lage ist, meinen Worten zu folgen.«
»Ich folge Euch«, versprach Thork und setzte sich gehorsam dem Prior gegenüber.
Haldur zweifelte insgeheim daran, begann aber dennoch. Wie es aussah, würde er den anderen kaum in einem besseren Zustand antreffen.
»Ich habe dich rufen lassen. Zweimal inzwischen. Hast du meine Botschaften nicht erhalten?«
»Doch«, murmelte Thork und sah auf die Tischplatte.
»Dann erkläre mir den Grund, weshalb du ihnen nicht gefolgt bist«, forderte Haldur ihn auf. Er legte eine gewisse Schärfe in seine Worte, schließlich war er hier, um den anderen zur Besinnung zu bringen.
»Ich hab’s ... vergessen«, sagte Thork lahm, ohne den Prior anzusehen.
»Vergessen«, schnaubte der. »Nun, Thork Eisenfels, den Ruf deines Priors zu vergessen