»Da bin ich aber froh«, sagte Nardon mit allen Anzeichen grenzenloser Erleichterung. »Für einen Augenblick hatte ich schon befürchtet, du hättest einen der Kapitäne bequatscht, es doch noch zu tun.«
»Zuviel der Ehre«, sagte Lomir, »aber dafür hätte ich ein Zauberer sein müssen.«
»Also gut«, sagte Krona. »Dann Dalen. Ist mir eigentlich auch lieber. Ich erhole mich noch von meiner letzten längeren Schiffsreise.«
»Ich auch«, sagte Nardon schaudernd.
»Ich meinte nicht die paar Stunden nach Sturmwacht«, erklärte Krona. »Ich meinte die zwei Wochen von den Südlichen Inseln nach Hause.«
»Zwei Wochen«, sagte Nardon fassungslos.
»Ja«, sagte Krona. »Und die können lang sein - Stürme und Regen, Ratten, schleimiger Eintopf, verlauste Matrosen, ununterbrochene Schaukelei …«
»Lass es gut sein«, sagte Lomir. »Er schläft sonst nicht heute Nacht.«
»Verzeihung«, sagte Krona grinsend.
»Dann brechen wir also nach Dalen auf«, sagte Pintel und wirkte ganz angetan von dem Gedanken. »Wann?«
»Wir tauschen eine Stadt gegen die andere«, sagte Fenrir finster. »Ihr wisst ja nicht, was mich das kostet.«
»Wäre ein Schiff dir lieber?«, fragte Krona.
»Nein«, gab Fenrir zu.
»Breitenbach ist sehr ländlich«, tröstete Lomir. »Es ist eher ein Dorf als eine Stadt. Von meinem Haus aus kann man den Waldrand sehen. Nach Dalen gehen wir nur, wenn wir etwas dort zu tun haben.«
»Waldrand klingt gut«, sagte Fenrir. »Vielleicht kann ich es dort tatsächlich über den Winter aushalten.«
»Wehe, du vergreifst dich an den Schafen des Nachbarn«, sagte Lomir grinsend und behielt das Grinsen auch bei, als ein gefährlich funkelnder gelber Blick ihn traf. »Ich fand ihn gut«, sagte er schulterzuckend. »Den Witz, meine ich.«
»Vielleicht beantwortet trotzdem jemand meine Frage«, sagte Pintel. »Wann brechen wir auf?«
»Die Stadt hat keine Sehenswürdigkeiten, und Geschäfte habe ich derzeit hier auch keine«, sagte Lomir. »Von mir aus gleich morgen früh.«
»Jemand anderer Meinung?«, fragte Krona. »Nein? Dann ist es beschlossen.«
5: STEIN UND FEUER
Unzählige Hände streckten sich Lianna entgegen, um ihr vom Pferd zu helfen. Jubel, Applaus und eine Flut gleichzeitig gestellter Fragen spülten über sie hinweg.
Sie schwang das Bein über den Hals des Schwarzen und rutschte zu Boden, Halt am Sattel suchend. Sie wollte nichts als schlafen, doch die alten, von Kindesbeinen an trainierten Verhaltensmuster ließen sie lächeln, Hände drücken und Umarmungen erwidern. Jemand nahm den Schwarzen und führte ihn weg.
In der Menge der Gesichter entdeckte Lianna endlich eines, das zu sehen sie wirklich freute: Elva, ihre Freundin aus Kindertagen, bahnte sich energisch einen Weg durch die dicht gedrängten Menschen. Ihr lockiges Haar stand um ihren Kopf wie eine Gewitterwolke, doch sie strahlte wie die aufgehende Sonne.
»Du machst Sachen«, sagte sie und zog Lianna in eine enge, innige Umarmung. »Wir wären fast gestorben vor Sorge! Wie geht es dir? Alles gut?«
»Ja«, log Lianna. »Alles gut. Nur ziemlich erschöpft.«
»Ich bin ja gespannt«, sagte Elva. »Du wirst eine Menge zu erzählen haben. Hast du wirklich diesen Troll zur Strecke gebracht?«
»Ja.«
»Nein!«
»Doch. Mausetot.«
»Platz!«, riefen einige Leute. »Macht Platz da vorne!«
Eine Lücke tat sich auf in dem Menschenkreis, der Lianna umgab. Elva ließ Lianna los und machte einen Schritt zur Seite, führte dann, wie viele andere, den rechten Daumen erst zur Stirn, dann zum Herz, eine ehrerbietige Grußgeste.
»Papa«, sagte Lianna mit Kleinmädchenstimme, warf sich in die Arme des großen, grauhaarigen Mannes, der durch die Lücke schritt, und brach in Tränen aus.
Das Weinen tat ihr gut, es linderte ihre innere Unruhe und, dessen war sie sich bewusst, es besänftigte Van Ranessa, von dem sie sonst eine wütende Strafpredigt zu erwarten gehabt hätte. So aber schirmte er sie in seinen Armen vom Rest der Welt ab, strich ihr immer wieder übers Haar, sie spürte, dass er selbst aufs äußerste aufgewühlt war, und flüsterte ihr Kosenamen aus ihrer Kindheit zu, bis sie ruhiger wurde. Schließlich, als ihr Schluchzen allmählich versiegte, gab er ihr ein Taschentuch und hielt sie auf Armeslänge von sich, um sie zu betrachten.
»Geht es dir gut?«, fragte er. »Bist du unversehrt?«
»Ja«, sagte Lianna erstickt, die Nase im Taschentuch vergraben. »Mir geht’s gut. Kümmert sich eigentlich jemand um den Schwarzen?«
»Geschieht bereits«, beruhigte Van Ranessa sie. »Er wird auf das Beste versorgt. So, da hast du also mal wieder deinen Kopf durchgesetzt und bist diesen Troll jagen gegangen?«
»Ja«, sagte Lianna und lächelte mädchenhaft.
»Und? Entweder hast du ihn verpasst, oder du bist sehr gut mit ihm fertig geworden.«
»Ich habe ihn getroffen. Und seine Gebeine faulen jetzt unter der Wetterspitze, falls die Gebeine von Trollen so etwas tun.«
Van Ranessa sah sie lange an.
»Alle Götter«, sagte er schließlich. »Du hast deine Kriegsausbildung gründlicher vollzogen, als mir bewusst war. Du hast ganz alleine einen Troll besiegt! Das hätte ich nicht für möglich gehalten.«
Sie wusste, sie tat sich keinen Gefallen, aber die Worte drängten über ihre Lippen. »Ich war nicht ganz alleine. Es gab da einen ... Krieger, der mir zur Seite stand. Ich traf ihn unterwegs.«
»Einen Krieger?«
»Eine Zufallsbekanntschaft. Es gibt nicht sehr viele gangbare Wege über das Gebirge, und er wählte die gleiche Passstraße wie ich.«
»Und wo ist er nun? Warum hast du ihn nicht mitgebracht? Wenn er meiner Tochter beigestanden hat, sollte er hier sein, damit ich ihn gebührend ehren und belohnen kann.«
»Äh, er ... Er ist ein wenig schüchtern. Hat eine Abneigung gegen größere Menschenmengen.«
»Nun, ich sehe, du hast viel erlebt, und es wird eine Weile dauern, bis du es erzählt hast. Aber zuerst willst du dich sicher erholen und ausschlafen.«
Lianna nickte dankbar. »Genau das will ich. Raus aus diesen Stiefeln und ein heißes Bad nehmen. Ich bin wirklich weit geritten heute.«
»Natürlich«, sagte er, fasste sie um die Schultern und schob sie vor sich her durch die Menge, aus der noch immer vereinzelte Jubelrufe klangen.
Die Ruhe ihres Wagens erschien ihr im Gegensatz zum Aufruhr draußen geradezu unnatürlich. Alles war so, wie sie es zurückgelassen hatte – nun, vielleicht nicht ganz so, es hatte jemand aufgeräumt in der Zwischenzeit. Die getragene Kleidung war vom Boden verschwunden, und ihre Stiefel standen blank poliert in Reih und Glied. Über ihrem Bett lag ein neuer, bunt bestickter Überwurf.
Lianna entledigte sich ihrer Stiefel und ließ sich mit einem Aufstöhnen auf das Bett fallen. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper schmerzte, und sie begrüßte den Schmerz, denn er lenkte ein wenig von ihrer Seelenqual ab.
Sie vermisste Thork. Sie vermisste ihn so sehr, dass ihr Körper vielleicht alleine durch den Verlust schmerzte, nicht durch die erlittenen Strapazen. Sie hatte ihn erst an diesem Morgen verlassen – oder hatte er sie verlassen? -, und doch schien es Monate her zu sein. Sie schloss die Augen und holte ihn sich in Erinnerung, seinen kurzen, dichten Bart,