Helmut schüttelte leicht den Kopf. »Tut mir leid, es geht nicht. Ich habe Schwierigkeiten, die ich nur allein lösen kann.«
»Kannst du mir nicht wenigstens sagen, worum es geht?«
»Berufliche Dinge«, schwindelte er.
»Du Ärmster.« Martha kam mit ausgebreiteten Armen näher und versuchte ihn um den Hals zu fassen.
Ganz plötzlich hatte der Arzt so etwas wie Angst vor diesem Griff. Angst vor der Frau, die nur ihre eigenen Vorteile im Auge hatte. Rasch machte er einen Schritt zur Seite, sodass Martha ins Leere griff. Dann sagte er rasch: »Hör mal, du kennst dich doch ganz gut in der Stadt aus.«
»Allerdings«, antwortete die rotblonde Frau geschmeichelt.
»Was weißt du über Frau Buchholz?«
»Meinst du die Millionärin, die oben am Berg wohnt?«
»Ja.« Helmut Amberg trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Sie ist die Besitzerin der Strickwarenfabrik Buchholz. Ein Unternehmen, das mit hohen Gewinnen arbeitet.«
»Sie ist Witwe, nicht wahr?«
Martha nickte vielsagend. »Ihr Mann starb, als sie noch jung war. Eine resolute Person, wie man überall hört. Sie hat die Fabrik ganz allein weitergeführt. Ich glaube sogar, sie tut es auch jetzt noch.«
»Aber sie ist doch eine kranke Frau.« Helmut fuhr sich mit der Hand über die Stirn. War es denkbar, dass jemand aus Rache den Tod von Therese Buchholz verlangte? Oder vielleicht aus Habsucht?
»Trotzdem legte sie das Ruder nicht aus der Hand. Nicht einmal ihrem Sohn räumt sie ein Mitspracherecht ein.«
»Sie hat einen Sohn?«
»Er ist über vierzig, aber noch immer nicht selbstständig.«
»Was tut er?« Helmut Amberg hatte einen schrecklichen Verdacht. Dieser Sohn, dessen Selbstständigkeit unterdrückt wurde, hatte ein Motiv für die Forderung, die man an ihn, Dr. Amberg, stellte. Doch war dieser Buchholz-Nachkomme so skrupellos? Eines Tages würde ihm doch ohnehin alles gehören. War es nicht unwahrscheinlich, dass er so ungeduldig war?
»Er hat Betriebswirtschaft studiert, soll recht tüchtig sein. Allerdings darf er nur die Befehle seiner Mutter ausführen. Er hat nicht mehr Rechte als jeder andere Angestellte. Wie man hört, soll er sogar weit schlechter bezahlt sein, als dies seiner Position in der elterlichen Fabrik entspricht.«
»Kennst du ihn?«
»Natürlich.« Martha hob geschmeichelt den Kopf.
»Was ist er für ein Mensch? Gewalttätig, impulsiv, rücksichtslos?«
»Ich vermisse deine Logik. Wenn ein Mann sich zwanzig Jahre lang von seiner Mutter unterjochen lässt, dann kann er doch nur sanft wie ein Lamm sein.«
»Hm.« Dr. Amberg ließ den Kopf hängen. Es musste jemand anders geben, der gegen die alte Frau war. Doch wer? »Hat sie weitere Verwandte?«
Martha sah ihn misstrauisch an. »Weshalb interessierst du dich plötzlich so sehr für die Prominenz unserer Stadt? Hast du nicht erst neulich gesagt, dass du nicht wissen willst, was man über die Reichen redet?«
»Stimmt. Es ist mir völlig gleichgültig, solange ich nichts damit zu tun habe.«
»Und jetzt hast du damit zu tun?« Marthas Sinne waren hellwach. Sie spürte, dass Helmut ein Geheimnis hatte, das er auf jeden Fall wahren wollte.
»Ich muss einen Hausbesuch bei Frau Buchholz machen«, schwindelte der Arzt.
»Geht es ihr denn so schlecht?« Martha kam neugierig näher.
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls muss ich mich beeilen.«
»Höflich bist du nicht gerade.«
»Ich bin nervös, das ist alles. Wenn ich die Sprechstunde absage, habe ich ganz bestimmte Gründe dafür. Und wenn du mich aufhältst, ist es kein Wunder, dass ich unfreundlich reagiere.«
»Ich halte dich auf?«, schrie Martha erbost. »Wer wollte denn über die Familie Buchholz informiert werden? Überhaupt finde ich es merkwürdig, dass du mir gegenüber so geheimnisvoll tust. Eigentlich solltest du mehr Vertrauen zu mir haben.«
»Wir sprechen ein anderes Mal darüber.« Helmut ging mit langen Schritten zur Tür.
»Du lässt mich stehen?« Wut und Enttäuschung verzerrten Marthas rundliches Gesicht.
*
Dr. Amberg betrachtete verwundert das grüne Polizeiauto, das auf dem Parkplatz von Sophienlust stand. Eine sonderbare Vorahnung beschlich ihn. Im Laufschritt rannte er über den weiten Vorplatz und hastete die Stufen der Freitreppe empor.
Man schien ihn erwartet zu haben, denn das mächtige Portal wurde sofort geöffnet. Ein Hausmädchen begleitete ihn in die Halle. Dort sprach Frau Rennert eben mit zwei Polizisten.
»Gut, dass Sie da sind, Herr Doktor. Ich wollte Sie eben schon benachrichtigen.« Frau Rennert war aufgeregt, das sah man sofort.
»Warum, was ist geschehen?« Helmut Amberg sah von einem zum anderen.
»Florence Theger hat am frühen Nachmittag mit den beiden Kindern einen Spaziergang gemacht. Sie wollte in etwa einer Stunde zurück sein. Inzwischen sind fünf Stunden vergangen, und sie ist noch nicht wieder da. Mir ist das unverständlich.« Frau Rennert rang verzweifelt die Hände.
»Wir haben die gesamte nähere Umgebung abgesucht«, mischte sich Justus ein. »Nirgends eine Spur.« Der alte Mann ließ den Kopf hängen.
Helmut Amberg rechnete nach. Es war etwa zwei Stunden her, dass er den mysteriösen Anruf erhalten hatte. Wenn Florence bereits vor fünf Stunden verschwunden war, konnte das nicht mit der Erpressung zusammenhängen. Hatte der Kerl am Telefon ihm nicht laut und deutlich versichert, dass er bis morgen warten würde?
»Wäre es nicht möglich, dass sie sich verirrt hat?«, erwog Helmut zaghaft. Noch konnte er nicht an die Ungeheuerlichkeit glauben, dass seine Kinder verschwunden sein sollten, und mit ihnen Florence. Florence, jene junge Frau mit der sich seine Gedanken in den letzten Tagen so oft beschäftigt hatten.
»Ausgeschlossen! Nick und ich haben alles abgesucht. Frau Theger und die Kinder müssten uns aufgefallen sein.«
»Dass das auch ausgerechnet heute passieren muss, da Frau von Schoenecker nicht im Haus ist«, klagte Frau Rennert. »Sie ist mit ihrem Mann zu einer landwirtschaftlichen Ausstellung gefahren.«
»Gibt es eine Vermutung?«, erkundigte sich der Arzt schlicht und überlegte, ob er den Polizeibeamten jetzt von dem seltsamen Anruf erzählen sollte, den er erhalten hatte. Doch zugleich erinnerte er sich an die Warnung des Erpressers: »Lassen Sie die Polizei aus dem Spiel. Sobald Sie sich mit ihr in Verbindung setzen, ist es um Ihre Kinder geschehen.« Aber nun war die Polizei schon da. Wenn es ihr tatsächlich gelingen würde, die Spur des merkwürdigen Anrufers zu finden, würde er die Kinder nie mehr wiedersehen. Nein, er durfte den Anruf nicht erwähnen.
»Wir haben die Polizei um Unterstützung gebeten, weil wir nicht mehr weiterwussten«, antwortete Frau Rennert ängstlich. »Vielleicht stellt sich alles als ganz harmlos heraus. Aber ich wollte nichts versäumen. Die Verantwortung ist mir einfach zu groß.« Frau Rennert zitterte merklich.
Die beiden Polizeibeamten, die sich etwas abseits gehalten hatten, traten zu der kleinen Gruppe.
»Wir sind das Gelände mit Suchhunden abgegangen. Nirgends eine Spur, keine Anzeichen auf ein Verbrechen. Ja, und daraufhin haben wir uns näher mit der Person der Kinderpflegerin befasst.« Der ältere der beiden Beamten klopfte auf den Aktendeckel, den er unter dem Arm trug. »Ich wollte gerade mit Ihnen darüber sprechen, Frau Rennert.«