»Wenn meine Mutti kommt, zeige ich ihr meinen Hasen«, frohlockte das kleine Ding in seiner Glückseligkeit. »Und die Küken, die gestern in Schoeneich ausgeschlüpft sind, muss sie sich auch gleich anschauen. Ich habe mir immer heimlich gewünscht, dass meine Mutti kommt. Ob sie jetzt wieder aufstehen und herumlaufen kann wie früher?«
Denise strich über das Haar des Kindes, das immer noch von zwei Schleifchen zu lustigen Rattenschwänzen gebunden wurde. »Es geht ihr besser, Kleines. Sie braucht aber noch Krücken beim Gehen. Nach und nach wird sie die Krücken weglassen können. Vielleicht erlebst du das hier. Ich möchte nämlich, dass deine liebe Mutti recht, recht lange bei uns bleibt.«
»Das möchte ich auch, Tante Isi«, plapperte Kitty munter drauflos. »Es ist so schön in Sophienlust. Bestimmt bleibt sie.«
»Ich wünsche es mir jedenfalls. Und du sollst ihr gut zureden. Du weißt ja, dass wir genügend Platz haben.«
»Wo soll sie denn schlafen? In Sophienlust?«
»Ich habe mir überlegt, dass es bei uns in Schoeneich ruhiger für sie wäre. Aber wir werden sie fragen, wie es ihr am liebsten ist. Ich meine nur, dass die Kinder in Sophienlust manchmal ein bisschen laut sind.«
»Wir sind überhaupt nie laut«, widersprach Kitty mit Überzeugung. »Mutti stört das nicht. Aber sie soll selber sagen, wo sie schlafen möchte. Und unsere Marianne muss natürlich dort wohnen, wo Mutti ist, weil sie ihr hilft, wenn sie einmal nicht aufstehen kann oder sich bücken muss, weil etwas heruntergefallen ist.«
Henrik gesellte sich zu seiner Mutter und Kitty. »Stimmt es? Kommt Frau Linden zu uns?«, fragte er neugierig. »Nickt hat es gesagt.«
»Ja, klar kommt sie«, verkündete Kitty selig. »Und wenn meine Mutti erst da ist, dann ist es natürlich noch viel, viel schöner in Sophienlust.«
Denise umarmte Kitty. So glücklich das kleine Mädchen in diesen Wochen auch im Kinderheim gewesen sein mochte, ein Hauch von Heimweh oder Sehnsucht war wohl doch geblieben. Kitty war zwar erst drei Jahre alt, doch der Aufenthalt in Sophienlust bedeutete für sie die erste längere Trennung von der Mutter. So war die Glückseligkeit des Kindes gut zu verstehen.
»Ja, dann wird es wunderschön«, raunte Denise Kitty ins Ohr.
»Mutti wird staunen, dass ich sogar schon reiten kann, wenn Nick oder Justus mich hält. Ach, es gibt überhaupt so viele Sachen, die ich ihr zeigen muss. Dauert es noch lange?«
»Noch ein paar Tage, aber keine volle Woche mehr.«
»Wie oft muss ich noch schlafen, Tante Isi?«
»Fünf Mal.«
Kitty zählte die Fingerchen ab, langsam und sorgfältig.
»Ziemlich oft«, stellte sie mit betrübtem Gesichtchen fest, als sie merkte, dass es sämtliche Finger einer Hand waren.
»Fünf Tage, die vergehen doch schnell«, tröstete Henrik die Kleine, und da er offenbar nichts anderes zu tun hatte, schickte er sich an, die Unterhaltung mit Kitty fortzusetzen. Er wollte mehr über Kittys Mutter erfahren.
Denise ließ die Kinder allein, denn sie hatte – wie immer – eine Menge zu tun. Dafür gesellte sich Heidi, die sich Vickys Meerschweinchen geholt hatte, zu den beiden Kindern. Sie ließ das Meerschweinchen, das auf den Namen Micky getauft war, auf dem Boden herumtrippeln und achtete darauf, dass es nicht zu weit weglief. Auch sie erfuhr die große Neuigkeit sofort.
»Dass du eine Mutti hast, wusste ich gar nicht«, meinte Heidi mit der Würde ihrer fünf Jahre. »Hast du auch einen Vati? Ich meine, einen richtigen Vati, der dich besuchen kommt?«
»Nein, einen Vati nicht. Den braucht man doch nicht«, entgegnete Kitty überzeugt. »Eine Mutti ist wichtiger.«
»Jedes Kind hat einen Vati«, warf Henrik, der darüber schon aufgeklärt war, überlegen ein. »Aber es kann natürlich sein, dass er nicht mehr da ist. So etwas kommt vor.«
»Wo soll er denn sein?«, erkundigte sich Heidi Holsten stirnrunzelnd.
»Na, denk doch einmal an Nicks Vati. Der ist gestorben.«
»Hm, aber wir haben gar keinen«, ließ sich Kitty wieder vernehmen. »Das macht auch nichts.«
»Also, das ist Quatsch«, verkündete Henrik. »Jeder hat einen Vater, auch die Tiere. Bloß ist der Vater nicht immer da.«
Kitty schob die Unterlippe vor. Sie dachte nach. Sie fand das Problem nicht wichtig, aber sehr kompliziert. »Mein Hase Mummel hat auch einen Vati«, meinte sie schließlich. »Das ist natürlich Langohr. Aber Langohr ist in den Wald gelaufen und kommt nicht wieder.«
»Na ja, du weißt eben nicht, wer dein Vati ist«, resümierte Henrik etwas herablassend. »Du musst deine Mutti einmal fragen, wenn sie da ist. Dann wirst du schon erfahren, dass du einen richtigen Vati hast.«
»Fragen tu ich sie. Aber ob ich wirklich einen Vati habe, das weißt du nicht. Das weiß nur meine Mutti.«
»Nun zankt euch nicht«, begütigte Heidi und hob das Meerschweinchen Micky wieder auf. »Ist doch Quatsch, sich bloß wegen eines Vatis zu zanken.«
»Wir zanken uns nicht, wir unterhalten uns«, behauptete Henrik würdevoll. »Zanken ist blöd. Und ich bin nämlich nicht blöd. Bist du vielleicht blöd, Kitty?«
»Nein, kein bisschen. Ich werde meine Mutti einfach fragen, wenn sie erst da ist. Du, ich freu mich ganz schrecklich auf sie.«
»Ich würde mich auch freuen, wenn ich du wäre«, erwiderte Henrik fröhlich. Die kleine Unterhaltung hatte also wirklich keinen Schatten auf die freundschaftlichen Beziehungen der Kinder geworfen. An Streit dachte niemand. Heidi hatte in ihrer ehrpusseligen Art lediglich ein bisschen übertrieben. Das tat sie gern, weil sie sich Kitty gegenüber als Respektsperson aufspielen wollte, wenn ihr das auch meistens nicht ganz gelang.
*
Marianne packte die Koffer und bereitete die Übersiedlung vor. Denise von Schoenecker hatte sich erboten, den großen Wagen mit dem Chauffeur zu schicken, damit die Fahrt für Rosita in keiner Weise zu anstrengend wurde.
An einem kühlen, regnerischen Nachmittag trafen die Gäste in Schoeneich ein, denn es war beschlossen worden, sie zunächst dort unterzubringen.
Das Ehepaar von Schoenecker begrüßte die beiden Ankömmlinge mit Herzlichkeit. »Wir freuen uns, dass Sie es endlich gewagt haben, die Reise zu uns anzutreten, Frau Linden«, sagte Denise und umarmte Kittys Mutter.
Alexander von Schoeneich küsste Rosita die Hand. »Willkommen in Schoeneich, liebe Frau Linden. Ihr Töchterchen haben wir inzwischen längst liebgewonnen. Wissen Sie, wie ähnlich Ihnen die Kleine ist?«
»Das sagen viele Menschen, Herr von Schoenecker. Selber kann man es meistens nicht beurteilen. Aber es gibt ein paar Kinderfotos von mir, auf denen ich genauso aussehe wie Kitty. Ist Kitty hier? Ich möchte meine kleine Maus so bald wie möglich sehen. Sie verstehen das sicherlich?« Sie sah sich suchend um.
»Kitty wird in der nächsten halben Stunde erwartet. Justus, der ehemalige Verwalter von Sophienlust, bringt sie im Ponywagen. Justus ist der gute Geist des Kinderheims«, erklärte Denise lächelnd. »Er verbringt seinen Lebensabend in Sophienlust und lässt sich von den Kindern grenzenlos ausnutzen. Dabei ist er aber restlos glücklich. Er bringt den Kindern das Reiten bei, hilft ihnen bei handwerklichen Arbeiten, fertigt kleine Tierboxen und dergleichen an, wenn so etwas benötigt wird, und jetzt hat er den Ponywagen für Kitty zurechtgemacht, weil Kitty wirklich noch zu klein zum Reiten ist mit ihren drei Jahren.«
»Ich sehe schon, Kitty ist hier im Paradies«, sagte Rosita leise.
Auch Marianne Weber wurde von dem Ehepaar von Schoenecker aufs herzlichste willkommen geheißen. Mit Hilfe des Chauffeurs trug sie das Gepäck in die beiden nebeneinander liegenden Zimmer, die für die Gäste