Kitty schob die Hand in Andreas Rechte. »Ist es mein Hase?«, fragte sie treuherzig.
»Frag erst einmal den Förster, Kitty. Er hat ihn aus dem Wald geholt.«
Klaus Schröder nickte dem Kind freundlich zu. »Munko hat ihn geholt. Aber Munko will ihn sicherlich nicht haben und schenkt ihn dir.«
Kitty schrie vor Freude so laut auf, dass die Tiere rundum erschrocken zusammenzuckten und die Köpfe hoben, als drohe eine Gefahr.
»Ich habe einen Hasen, ich habe einen Hasen«, jubelte sie und hüpfte von einem Bein auf das andere. »Bestimmt hat Munko genau gewusst, dass ich mir einen Hasen wünsche. Bloß für mich hat er ihn gebracht.«
Andrea zog das aufgeregte Mädchen mit sich fort, weil es mit seinem fröhlichen Lärm allzu viel Unruhe ins Tierheim brachte.
»Komm, wir wollen Munko suchen. Er hat sich eine dicke Wurst als Belohnung verdient. So ein kluger Hund!«
»Eine lange, dicke fette Wurst«, sagte Kitty andächtig. »Munko, wo bist du? Munko, komm, du kriegst eine Wurst.«
Aber Munko war schon wieder einmal unterwegs, um überall aufzupassen und für Ordnung zu sorgen.
»Ich gebe ihm die Belohnung heute Abend, wenn er von seiner Arbeit heimkommt. Wer weiß, was er noch alles zu tun hat«, versprach Andrea dem Kind.
Sie bewirtete den jungen Förster mit einem Imbiss und schaute bewundernd zu, als Kitty auch die dritte und letzte mittags übriggebliebene Plinse mit sehr viel Zucker verspeiste.
Auf diese ungewöhnliche Weise hielt Mummel, das Häschen, im Tierheim seinen Einzug. Es wurde von Kitty Linden vom ersten Augenblick an als ihr ganz persönliches Eigentum betrachtet.
*
Indessen machte Rositas Genesung nach und nach genau die Fortschritte, die der Professor ihr vorausgesagt hatte. Sie lernte, wieder aus eigener Kraft zu gehen und zu stehen, wenn sie auch zunächst noch die Hilfe der kurzen Krücken in Anspruch nehmen musste. Da sie sich stark abstützen musste, kräftigten sich ihre Arme und Hände rasch. Sogar die rechte Hand besserte sich, doch erwies sich die Sehnenverkürzung nach wie vor als großes, fast unüberwindliches Hindernis beim Geigenspiel. Mit eiserner Willenskraft hatte die Künstlerin jedoch nun erreicht, dass sie etwa eine halbe Stunde lang fehlerfrei spielen konnte, ohne vor Überanstrengung und Schmerzen den Bogen abzusetzen. Doch sie hörte selbst, dass der Ton, den sie ihrem kostbaren Instrument entlockte, anders geworden war und nicht mehr so voll und süß klang wie früher.
»Geigenstunden für Kinder«, seufzte sie mutlos. »Zu mehr wird es nicht reichen. Aus ist der Traum von der großen Karriere. Wenn ich fleißig übe und die Schmerzen zu ertragen lerne, werde ich vielleicht so weit kommen, dass ich eine volle Stunde durchhalte. Aber das bringt mir nicht viel ein. Wollte ich je wieder konzertreif spielen, müsste ich täglich viele, viele Stunden spielen, ohne dabei zu ermüden oder Schmerzen zu spüren. Ach, es ist schon eine schlimme Geschichte, Marianne.« Sie ließ sich in einen Sessel sinken und legte ihr Instrument beiseite.
»Soll ich Tee machen, Frau Linden?«, erbot sich Marianne. »Ich habe etwas Gebäck da.«
»So ein Luxus«, schalt Rosita. »Ein Margarinebrot ist genauso gut.«
»Es gab ein Werbeangebot einer Keksfirma. Da konnte ich nicht widerstehen. Sie müssen doch wenigstens richtig essen.«
»Du bist selbst schon ganz dünn und blass geworden«, stellte Rosita seufzend fest. »Lange genug ist es dir gelungen, vor mir zu verheimlichen, dass du dich nicht ordentlich ernährst. Aber damit ist jetzt endgültig Schluss. Du machst also Tee für uns beide und bringst Gebäck für uns beide. Ich werde nicht mehr trinken und essen als du.«
Marianne senkte den Blick. »Ich habe gar keinen Hunger«, behauptete sie.
»Das glaube ich dir nicht. Du musst dich damit abfinden, dass du selber die gleiche Menge essen musst, wenn du willst, dass ich esse. Das ist jetzt eiserner Grundsatz, an dem nicht zu rütteln ist.«
Das junge Mädchen erhob keine weiteren Einwände, sondern ging in die Küche der Pension, um Teewasser aufzusetzen.
Die beiden großen hellen Vorderzimmer hatten die beiden inzwischen mit zwei kleineren an der Rückfront des Hauses vertauscht, für die die Miete etwas billiger war. Die Pensionswirtin hatte Verständnis bewiesen und ihnen die beiden preiswerteren Zimmer von sich aus angeboten, als sie vor etwas mehr als zwei Wochen frei geworden waren. Marianne hatte umgeräumt und dabei festgestellt, dass die rückwärtigen Räume eigentlich gemütlicher waren als die begehrten Vorderzimmer. Vor allem war es hier ruhiger, denn die Hinterhöfe waren still und verträumt, während von der Straße ständig der Lärm von Straßenbahnen, Autos und Bussen zu hören gewesen war. So hatte die Geldnot auch ihre guten Seiten. Jedenfalls bemühte sich die gute Marianne, es so zu betrachten und auch Rosita ein wenig von dieser weisen Lebensauffassung, Erbteil ihrer Großmutter, zu vermitteln.
Wenig später tranken die beiden an einem etwas wackligen Tischchen ihren Tee und aßen je vier kleine Stücke von dem knusprigen Gebäck dazu, die für sie eine Köstlichkeit waren, weil sie in letzter Zeit wirklich nicht verwöhnt worden waren.
»Eine Weile halten wir auf diese Weise noch durch, Marianne«, sagte Rosita Linden leise. »Aber auf die Dauer nicht. Was dann werden soll, kann ich mir nicht recht vorstellen. Ich möchte am liebsten das großzügige Angebot Frau von Schoeneckers annehmen und mich in Sophienlust erholen. Natürlich ist es beschämend, dass wir damit eingestehen, wie hilflos wir sind. Aber bei Frau von Schoenecker wäre es mir nicht einmal peinlich. Diese Frau besitzt eine so starke Ausstrahlung von Güte und Hilfsbereitschaft, dass man ermutigt wird, sie um ihre helfende Hand zu bitten. Bei jedem ihrer Anrufe hier wird mir das deutlich. Mindestens schon drei Mal hat sie mich eingeladen. In Sophienlust oder auf Gut Schoeneich für ein paar Wochen Gast zu sein. Meinst du nicht auch, dass ein wenig Landluft und vor allem besseres Essen für dich ganz gut wären, Mariannchen? Du hättest auch weniger Arbeit, und – was das Wichtigste wäre – wir wären wieder mit unserer kleinen Kitty beisammen.«
»Ja, um Kittys willen würde ich lieber heute als morgen nach Sophienlust gehen. Es fragt sich nur, ob die nette Einladung auch für mich gemeint war, Frau Linden«, erwiderte die bescheidene Marianne. »Ich bin kerngesund und habe Erholung nicht nötig.«
»Frau von Schoenecker hat stets von dir und mir gesprochen, Mariannchen. Glaubst du denn, ich käme schon ohne deine Hilfe aus? Du hast mich in dieser Zeit meiner Krankheit so gründlich verwöhnt, dass ich auf dich geradezu angewiesen bin.«
Marianne errötete. »Hat sie wirklich auch mich erwähnt, die liebenswürdige Frau von Schoenecker? Gäbe es für mich ein Plätzchen in Kittys Nähe? Ich will mich ja gern in meiner freien Zeit im Haus, im Garten oder in der Küche nützlich machen.«
»Ohne dich würde ich nicht fahren. Überhaupt – ich bin noch nicht gänzlich entschlossen. Aber es würde uns ein Atemholen ermöglichen. Möglicherweise würde der Luftwechsel sich sogar günstig für mich auswirken. Ich kann jetzt mit den Krücken ganz gut gehen und würde gern einmal einen Spaziergang wagen. Aber hier, mitten in der Stadt, hat das nicht viel Sinn. Zwischen den vielen Menschen auf der Straße würde ich vielleicht umgestoßen werden. Auf dem Lande ist viel Platz. Die zwölf Massagen und Behandlungen durch die Krankengymnastin habe ich hinter mir. Mich hält also hier nichts mehr.«
Sie beleuchteten den Plan von allen Seiten, und Marianne redete ihrer Herrin eifrig zu, denn sie rechnete sich insgeheim aus, dass die Geldbestände auf diese Weise gestreckt werden konnten. Doch im Grunde waren die finanziellen Erwägungen weder für Rosita Linden noch für Marianne Weber entscheidend. Das, was sie am meisten nach Sophienlust zog, war der unwiderstehliche Magnet Kitty.
So ergab es sich, dass Denise von Schoenecker ein paar Tage später eine dankbare Zusage erhielt, als sie ihre freundliche Aufforderung wiederholte. Denise besaß die seltene Gabe, sich in die Lage ihrer Mitmenschen hineinzuversetzen. Deshalb spürte sie, dass Rosita Linden