»Dass ein einziger falscher Schritt im Badezimmer so verheerende Folgen haben kann, erscheint mir grausam und ungerecht.«
Der Professor, ein erfahrener, herzensgütiger Mann, beugte sich vor und legte eine Hand auf Rositas Schulter. »Versuchen Sie, Ihr Schicksal anzunehmen und sich mit ihm auseinanderzusetzen, Frau Linden«, forderte er sie auf, und seine tiefe Stimme klang dabei warm. »Es ist unsere Aufgabe, zu heilen und zu helfen. Wo wir nicht in der Lage sind, den Schaden mit unserer Kunst ganz zu beheben, ist es unsere Pflicht, dem Kranken einen Weg zu weisen. Sie sind jung und werden in absehbarer Zeit auch wieder gesund sein. Gewiss ist es hart, dass Sie Ihre Karriere als Geigensolistin vielleicht als beendet ansehen müssen. Aber wie wäre es, wenn Sie Musikunterricht erteilten? Es ist nur ein Vorschlag. Es tut sich nach meinen Erfahrungen immer dann eine Tür auf, wenn eine andere zugeschlagen wird. Halten Sie die Augen offen, damit Sie die andere Tür nicht übersehen, Frau Linden. In Ihrem Alter gibt man wegen einer steifen Hand nicht gleich auf. Ich sagte Ihnen ja schon, Sie werden sicher wieder geigen können,wenn es auch noch lange dauert. Aber damit eröffnen sich Ihnen für die spätere Zukunft auch neue Aussichten. Denken Sie bitte daran, wenn Sie jetzt in Gefahr sein sollten, Ihren Mut zu verlieren.«
Rosita senkte die Lider. Er meint es gut, aber er weiß nicht, was es wirklich für mich bedeutet, dachte sie bedrückt. Musikunterricht, damit könnte ich Kitty wahrscheinlich keine gute Ausbildung ermöglichen. Man verdient heutzutage nicht viel mit Geigenstunden. Wenn ich nicht mehr konzertreif spielen kann, könnte ich auch keine Meisterschüler annehmen, sondern müsste mich mit Kindern abplagen, die von ihren ehrgeizigen Eltern eine Geige bekommen haben und zum nächsten Weihnachtsfest unbedingt » Oh du fröhliche …« spielen sollen. Ach du meine Güte, wenn das meine Zukunft sein soll! Ich möchte wissen, ob der Professor zufrieden wäre, wenn er ab morgen nur noch als Hilfspfleger in seinem eigenen Krankenhaus tätig sein dürfte!
Rosita schwieg, weil es nichts mehr zu sagen gab. Zwei Schwestern erschienen auf ein Klingelzeichen des Arztes hin, um sie hinauszufahren.
»Viel Glück, Frau Linden«, sagte der Professor und reichte ihr die Hand.
»Das wär’s also«, schloss eine gute Stunde später in der Pension Rosita ihren ausführlichen Bericht an Marianne. »Der Professor rät mir, später Geigenstunden an kleine Buben und Mädchen zu erteilen und bis dahin von der Luft zu leben. Das heißt, über meine akuten Geldsorgen habe ich natürlich nicht mit ihm gesprochen. Er kann sich gewiss nicht vorstellen, was es heißt, wenn man nicht mehr weiß, wovon man die Pensionsmiete für den nächsten Monat bezahlen soll.«
Marianne streichelte sanft den verletzten Arm Rositas. »Ich schaffe es schon, Frau Linden. So knapp sind wir gar nicht bei Kasse.«
»Aber der liebe Herr Professor wird eine Rechnung schicken«, gab Rosita zu bedenken.
»Dann wird der liebe Herr Professor eben auf sein Geld ein bisschen warten. Er hat mehr Geld als wir. Um die Liquidation des Doktors mache ich mir die wenigsten Sorgen. Es gibt bestimmt Dringenderes, was wir zu bezahlen haben.«
Marianne tat selbst in dieser verzweifelten Lage so, als sei sie guten Mutes. In Wirklichkeit hatte sie bereits ihren eigenen Wintermantel und ihre sehr schicken Pelzschuhe ins Leihhaus getragen, weil sie sie im kommenden Sommer gewiss nicht brauchen würde. Auch das Goldarmband von ihrer Großmutter lag im Pfandhaus, dazu zwei kostbare Schmuckstücke von Rosita und deren Nerzpelz.
Wenn uns das im vergangenen Jahr einer vorausgesagt hätte, dachte sie und seufzte verstohlen. Dabei überlegte sie wieder einmal fieberhaft, ob sie noch irgendetwas Wertvolles besitze, das sie beleihen lassen könne. Der Mann im Leihhaus hatte schon wegen der Stiefel ein ziemlich geringschätziges Gesicht gemacht, obwohl die Stiefel im Herbst über zweihundert Euro gekostet hatten und kaum getragen waren. Es waren eben schlechte Zeiten, und es gab eine Menge Leute, die zu Beginn der wärmeren Jahreszeit die besseren Wintersachen versetzten.
Marianne war über das, was der Professor Rosita eröffnet hatte, mindestens ebenso enttäuscht und unglücklich wie diese. Doch sie kam nicht noch einmal auf die Idee, einen Brief an Axel Fernau aufzusetzen. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass sie damit nichts erreichen und sich obendrein noch Rositas Zorn zuziehen würde, weil sie ihr fest versprochen hatte, über Kittys Herkunft für alle Zeiten Stillschweigen zu bewahren.
Wir werden es schon schaffen, dachte sie. Wenn Frau Linden wieder gesund ist, muss sie Musikunterricht geben, und ich könnte in anderen Haushalten stundenweise putzen oder Kinder beaufsichtigen. Vielleicht behält Frau von Schoenecker unsere Kitty noch eine Weile kostenlos in Sophienlust. Sie war so lieb und nett …
»Woran denkst du eigentlich?«, fragte Rosita in Mariannes sorgenvolle Überlegungen hinein. »Weißt du auch nicht, wie es weitergehen soll?«
»Es geht immer weiter, Frau Linden. Meine Großmutter hatte so ihre Sprüche. Wo ein Häuschen ist, ist auch ein Gräschen, pflegte sie zu sagen, wenn jemand arm war und nicht recht weiterkam. Sie hatte recht, denn es kommt fast nie vor, dass jemand wirklich verhungert. Schon wegen Kitty wird uns der liebe Gott nicht verlassen.«
»Der liebe Gott hilft nur, wenn man bereit ist, sich selber zu helfen«, erwiderte Rosita. »Ich will versuchen, den Mut nicht zu verlieren. Bring mir meine Geige. Da es der Hand jetzt nicht mehr schaden kann, werde ich üben, auch wenn es mir Schmerzen bereitet.«
Das Mädchen brachte das Instrument und führte Rosita zu einem Stuhl, auf dem sie im Sitzen spielen konnte. Wenig später erklang eine klare einfache Melodie. Doch schon nach fünf Minuten musste Rosita wieder aufhören, weil ihre Kräfte sie im Stich ließen und die Schmerzen zu stark wurden.
»Ob der Professor weiß, wie schwer es ist, wieder einen Anfang als Geigerin zu finden?«, flüsterte die Künstlerin entmutigt und starrte traurig zum Fenster hinaus.
*
Kitty ahnte nichts von den schweren Schatten, die über dem Leben ihrer geliebten Mutti lasteten. Sie sonnte sich in Sophienlust als Nesthäkchen und Liebling in der Gunst aller. Besonders Heidi Holsten tat sich darin hervor, Kitty zu betreuen und zu beschützen, denn sie selbst hatte die Rolle der Jüngsten lange genug spielen müssen. Abends legte sie stets größten Wert darauf, dass Kitty vor ihr in die Wanne und ins Bett ging. Und jeder dritte Satz von ihr war: »Das war Kitty nicht – das kann Kitty nicht, weil sie noch viel zu klein ist«.
Kittys besondere Aufmerksamkeit und Liebe gehörte jedoch Andrea, dem Peterle, Andreas Hunden und dem Tierheim. Daran konnte nicht einmal die betrübliche Tatsache etwas ändern, dass der Hase Langohr eines Tages endgültig und für immer ausgeblieben war.
»Er ist bei den anderen Hasen im Wald geblieben«, stellte Kitty traurig fest. »Aber vielleicht kommt er nächstes Jahr wieder, wenn er die Ostereier gelegt hat. Dann muss er ja nicht mehr bei den vielen Hasen im Wald sein.«
»Aber es wird jedes Jahr wieder Ostern, Kitty«, gab Andrea lächelnd zu bedenken. »Ich fürchte, dein Freund wird uns für immer untreu bleiben. Gönnen wir ihm die Freude. Wahrscheinlich will er eine Hasenfamilie gründen, heiraten und Kinder haben, weißt du?«
»Muss man denn unbedingt heiraten, wenn man Kinder haben will, Tante Andrea?«, erkundigte sich Kitty wissbegierig. »Meine Mutti hat doch mich, und sie ist nicht verheiratet. Bestimmt nicht. Das müsste ich nämlich wissen.«
»Vielleicht war sie ganz früher einmal verheiratet, und du kannst dich nicht mehr daran erinnern. Das ist ja nicht so wichtig«, wich Andrea einer konkreten Antwort aus. »Aber bei Meister Langohr ist das etwas anderes. Außerdem bin ich nicht einmal sicher, ob er wirklich heiraten will, denn es ist dafür eigentlich schon ein bisschen spät im Jahr.«
»Er wollte bloß zu den anderen Hasen, um ihnen jeden Abend etwas zu erzählen,