Das kalte Licht. Ludger Bollen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludger Bollen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935436
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wer der Tote wohl sein mag, und aus welchem Grund ich Euch an diesen Ort gebeten habe, ihn in Augenschein zu nehmen. Nun wohl, in der vergangenen Nacht, gegen halb zwei Uhr in der Frühe wurde der leblose Körper meines Freundes, des hoch geschätzten Kaufmanns und Ratsherrn Heinrich von Brempt, auf der Eisdecke eines schmalen Fleets in einem entlegenen Teil der Neuen Stadt gefunden.“

      Ulrich hatte angenommen, dass der Tote zu den vermögenden Männern der Stadt zählen müsse, denn niemand hätte sich bemüßigt gefühlt, beim Hinscheiden eines armen, unbedeutenden Tropfs eine Untersuchung in die Wege zu leiten, aber da ein Ratsherr, einer der führenden Köpfe der Stadt, ums Leben gekommen war, wurde die Angelegenheit um einiges verständlicher. Laut fragte er: „Es waren Männer der Stadtwache, die den Toten fanden?“

      Lengsdorp nickte anerkennend und fuhr an diesem Punkt fort zu berichten.

      „Richtig. In der Nacht waren sowohl Nachtwächter von der Wedde als auch die hiesigen Wachsoldaten verständigt worden, dass Heinrich abends nicht zu seiner Familie zurückgekehrt sei. Man bildete eilends Suchmannschaften, denen je eine Tragbahre beigegeben wurde, um den Mann, falls er verletzt und ohnmächtig aufgefunden werde, rasch transportieren zu können. Als eine der ausgeschickten Streifen ihn schließlich fand, war er allerdings tot, aber die Männer entschieden dennoch, ihn sogleich aufzuladen, und sie brachten ihn hinter diese Mauern.“

      „Wie, glaubt man, ist er gestorben?“

      „Es waren drei Männer, die den Leichnam fanden, und ein jeder von ihnen berichtete übereinstimmend, dass von Brempt geradewegs am Fuß der Brücke, welche über das Fleet führt, gelegen habe. All dies legt nahe, er habe beim Überqueren den Halt verloren und einen tödlichen Sturz hinunter auf das Eis getan. Etwa zwanzig Schritte entfernt vom Toten fand sich an der Uferböschung sein Hut: möglich, dass ihn ein plötzlicher Windstoß von Heinrichs Kopf geweht hatte. Ein seltsamer Gedanke: Ja, Heinrich war ein Mann, der weit eher geeignet schien, einen Baum mit seinen bloßen Händen auszureißen, als dass man glauben möchte, er könne selbst fallen. Und doch, das Pflaster war rutschig, eine einzige törichte Bewegung, vielleicht dass er sich zu weit vorbeugte, seinen davonfliegenden Hut zu erhaschen, jedenfalls scheint es die einleuchtendste Erklärung für das Unglück. Dies umso mehr, da er in tiefdunkler Nacht mit einer Laterne in der Hand unterwegs war. Man fand sie erloschen neben Heinrichs Körper auf den Eisschollen.

      Doktor Winckel, ein Bekannter der Familie, den wir bereits am frühen Morgen verständigten, hat bestätigt, dass eine Wunde, welche an Heinrichs Kopf zu sehen ist, vermutlich von dem schweren Stoße des Schädels auf dem Eise herrührt. Er war entweder sofort tot oder wenigstens ohne Bewusstsein, und musste bald darauf unweigerlich erfrieren.“

      Ja, es war bitterkalt in den Nächten, und wie tückisch das glatte Pflaster auf einer Brücke sein konnte, hatte Ulrich gerade erst auf dem Weg hierher erfahren. Aber da war zunächst etwas anderes, worauf er sich keinen Reim machen konnte, und so warf er neuerlich eine Frage ein.

      „Wenn von Brempts Tod durch einen unglücklichen Sturz verursacht wurde, wie doch alle annehmen, warum ist Euch gleichwohl daran gelegen, nach dem Befund dieses Doktor Winckel noch eine weitere Untersuchung durchführen zu lassen?“

      „Ich habe sogar noch mehr veranlasst, als nur Euch mit hinzuzuziehen. Auf meine Bitte hin hat sich ebenso der hiesige Regimentsarzt bemüht, und ich habe außerdem noch einen Doktor Sriver um sein Erscheinen gebeten, einen wohl beleumdeten Amtsträger des Collegium Medicum. Ich hätte ihn allerdings bereits vor einer halben Stunde erwartet, doch wie es scheint, wurde er aufgehalten.“

      „So muss ich also anders fragen: Warum habt Ihr geruht, in dieser Sache noch zwei weitere Ärzte und obendrein auch noch mich, einen Studenten der Medizin herbeizurufen?“

      Lengsdorp antwortete nicht sofort. Er tat einige Schritte auf eine der roh gezimmerten Bänke im Raum zu, ließ sich seufzend auf ihr nieder und winkte Ulrich, es ihm gleich zu tun. Eine geraume Zeit lang starrte er wie abwesend in die Flammen der Feuerstelle.

      „Es mag besser zu verstehen sein, wenn ich Euch kurz berichte, wie ich selbst die Unglücksnacht erlebte“, nahm er die Erklärung wieder auf, und sprach in vertraulichem Ton, doch leise und verhalten, so als ob mit den gesprochenen Worten die Erinnerung an Geschehnisse wachgerufen wurden, die er als seltsam unbegreiflich erfahren hatte: „Kurz vor der zehnten Stunde der vergangenen Nacht – glücklicherweise hatte ich mich noch nicht zu Bett begeben – klopfte eine Magd aus von Brempts Hause an meine Tür. Maria, Heinrichs Frau, hatte Gesinde ausgeschickt, Freunde und Bekannte um Hilfe zu bitten, weil ihr Mann von einer abendlichen Besprechung nicht nach Hause zurückgekehrt sei.“

      „War er allein ausgegangen?“

      „Ja, es ist ein überschaubares Stück Wegs von Heinrichs Haus zum Viertel der Sepharden, wo er einen befreundeten Geldverleiher für eine Unterredung aufsuchen wollte. Als ihr Heinrich weit über die Zeit, die er angegeben hatte, ausblieb, wurde Maria das einsame Warten unerträglich. Sie schickte einen Boten hinterdrein, und als dieser zurückkehrte, war sie sicher, es müsse Heinrich etwas zugestoßen sein, denn er berichtete, dass ihr Mann bereits vor geraumer Zeit von dort aufgebrochen war.

      Als ich bei Maria eintraf, waren außer ihr und einigen Dienern, Mägden und Zofen des Haushalts bereits mehrere Nachbarn zugegen, die gleichfalls gerufen wurden. Sie ist eine tapfere Frau und hielt sich aufrechter als viele von denen, die um sie herum versammelt waren und wenig mehr als Jammern und Gebete beizusteuern wussten. Doch kamen wir bald überein, dass es angesichts der vorgerückten Stunde geraten sei, sowohl bei der Wedde vorzusprechen, als auch Männer der Stadtwache um Hilfe zu bitten. So teilten wir uns auf, dergestalt dass je zwei Mann sich dorthin begaben, derweil wir Verbliebenen uns zu zwei kleinen Haufen zusammen scharten, in verschiedener Richtung die umgebenden Straßen und Plätze abzusuchen. Wir ließen Maria mit den übrigen Frauen zurück, und dann suchten wir wohl bald zwei Stunden lang im fahlen Licht unserer Laternen eine Spur von Heinrich zu finden. Als die Kerzen zur Neige gingen, mussten wir uns die Vergeblichkeit unserer Bemühungen eingestehen. Während einige nach Hause eilten, mit dem Versprechen, die Suche am Morgen wieder aufzunehmen, falls es nötig sein sollte, übernahm ich es, Maria von unserer glücklosen Suche zu berichten. Auch wollte ich ihr beistehen und den Gedanken wachhalten, dass bessere Nachrichten eintreffen möchten. Es mag beinahe halb drei Uhr gewesen sei, als all unsere Hoffnung erstarb, da ein Soldat eintraf und meldete, er habe zusammen mit seinen Kameraden Heinrichs Leichnam gefunden. Als der Mann in seiner Schilderung kundtat, der Ratsherr müsse wohl durch einen unglücklichen Sturz von der Fleet-brücke zu Tode gekommen sein, war es endlich um Marias Haltung geschehen. Sie verfiel in ein so lautes Wehklagen, dass eines ihrer Kinder aus dem Schlaf gerissen wurde, und sie schwor, ihr Heinrich könne niemals durch eine solche, dem Teufel entsprungene Laune ums Leben gekommen sein. Bald schalt sie den Überbringer der Todesnachricht einen dreisten Lügner und, wiewohl alle ihr gut zuredeten, war sie doch kaum zu beruhigen.“

      An dieser Stelle konnte Ulrich, wenngleich er der Schilderung zuvor ergriffen gelauscht hatte, sich nicht enthalten, den Erzähler zu unterbrechen.

      „Wartet einen Moment“, fiel er ein, „Habe ich es recht verstanden, dass ihr Klagen nicht etwa begann, als man ihr berichtete, ihr Mann sei tot, sondern erst in dem Moment, da der Soldat ihr bedeutete, er müsse durch einen dummen Fehltritt zu Tode gestürzt sein?“

      Lengsdorp führte eine Hand zur Stirn, offensichtlich bemüht, die Geschehnisse der vergangenen Nacht im Geiste richtig zu ordnen, und für einige Augenblicke verharrte er in dieser Haltung, ehe er fortfuhr zu antworten:

      „Ich hatte noch keine Muße, die Dinge so zu erfragen wie Ihr. Nun aber, da Ihr es erwähnt, kommt es mir so vor, als habe es sich wirklich in dieser Weise zugetragen. Ja, es muss wohl so gewesen sein. Maria schien mir noch ruhig und gefasst, da ihr die Todesnachricht überbracht wurde, doch als der Mann weitersprach, wurden wir gewahr, dass ihr Betragen sich ins Gegenteil verkehrte. Vielleicht dass ihr Herz Zeit brauchte, die Worte in ihrer ganzen Tragweite aufzunehmen?“, setzte er ohne rechte Überzeugung hinzu.

      „Aber wie dem auch sei, da keines der tröstenden Worte, die um sie herum gesprochen wurden, und keine Umarmung ihrer Freundinnen und Vertrauten ihren übergroßen