Das kalte Licht. Ludger Bollen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludger Bollen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935436
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zu beschicken habe.

      Und so ist es dann geschehen. Ich bin zeitig zum Rathaus aufgebrochen, denn es dauert mitunter arg lang, ehe unsereins vorgelassen wird, und nachdem ich einige Zeit in den Vorräumen gewartet habe, erscheint endlich auch mein Herr. Eben erst hatte er aus einer langen Besprechung gefunden. Er winkt mich zu sich, wir begeben uns in eine Ecke, wo ihm jemand Papier, Tinte und Feder aushändigt, und ohne sich überhaupt zu setzen, schrieb er jene Zeilen, die Ihr soeben gelesen habt. Aber es ist doch ganz verdreht, dass Ihr all dies benennen konntet, noch ehe ich davon berichtet habe. Es ist ja, als wäret Ihr dabeigesessen und hättet es mit eigenen Augen gesehen.“

      Der Junge hatte bildhaft und ehrlich gesprochen, doch allein von den recht turbulenten Umständen, unter denen ihm sein Botengang aufgetragen wurde. Hingegen hatte er dem Inhalt des Schreibens rein gar nichts hinzugefügt und Ulrich wurde es gewiss, dass man ihm nichts weiter anvertraut hatte, als das, was er bereits aufgesagt hatte.

      „Du hast natürlich ein Recht zu erfahren, wie ich die Begebenheiten, von denen du gerade gesprochen hast, erahnen konnte“, fuhr er wohlwollend fort: „Es ist dabei durchaus keine Zauberei im Spiel, denn das meiste davon stand auf eine gewisse Art in diesem Brief zu lesen, so dass ich nur wenig dazutun musste, es zu erraten. Ich nehme doch an, dass ein wohlangesehener Kaufmann wie dein Herr sein persönliches Siegel besitzt? Nun, er hatte es offensichtlich nicht zur Hand, denn stattdessen finden wir im Wachs aufgedrückt das Wappen der Stadt: Es muss also in amtlicher Stube versiegelt worden sein, und da uns die ersten Zeilen zudem mitteilen, dass er dem Rat nahesteht, dürfen wir aus beiden Dingen schließen, dass unsere Botschaft nicht anders als im Rathaus selbst zur Niederschrift gelangte.“

      Eilert schien allenfalls halb überzeugt, vermochte aber nichts zu entgegnen, da Ulrich ungerührt mit seiner Erklärung fortfuhr.

      „Auch mit den übrigen Dingen, die ich gesagt habe, verhält es sich nicht anders. Dass dein Herr beim Schreiben nicht die ihm gewohnte Feder führte, zeigt sich leicht darin, dass der Tintenstrich anfangs bei den ersten Lettern viel breiter verläuft als bei allen nachfolgenden. Wir wollen deshalb annehmen, dass der Kaufmann das nächstbeste Utensil ergriff. Ob nun der Federkiel auf andere Art gespitzt war oder einfach zu dünn und weich – jedenfalls musste seine Hand erst das rechte Gefühl dafür finden, wie sie über das Blatt zu führen sei. Und da wir schon vom Blatte reden: Es ist geknickt nicht allein durch das Zusammenfalten. Vielmehr hat sich noch eine weitere Falz, welche allerdings unschön im spitzen Winkel quer über das Papier läuft, abgedrückt. Mir scheint, als habe der Schreiber den Bogen hastig auf einer Unterlage ausgebreitet und nicht darauf geachtet, dass eine Ecke weit überhing, woraufhin der Brief entlang dieser Kante gedrückt und weithin abgeknickt wurde.

      Als letztes schließlich bemerkte ich, dass auf dem Blatte die zuletzt geschriebenen Worte allerlei ungewollte Abdrücke hinterlassen haben. Dieses konnte nur dadurch geschehen, weil dein Herr den aufgestreuten Löschsand vorzeitig davon blies und alsdann das Schreiben rasch zusammenfaltete, noch ehe die feuchte Tinte gänzlich angetrocknet war. Du siehst also, dank der vielen vor mir liegenden Hinweise konnte ich mir leicht zusammenreimen, unter welchen Umständen der Kaufmann dir diesen Botengang aufgetragen hat.“

      Eilert vernahm wohl die Erklärung, aber in seinem Gesicht stand geschrieben, dass sie sich gar zu unwahrscheinlich anhörte und dass zu einem Scharfsinn dieser Art gewiss auch irgendwelche geheimen Kräfte gehören mussten. Er konnte nicht umhin, Ulrich fortan zu bewundern. „Verdrehe dem Jungen nicht den Kopf mit solchen Gauklertricks“, ließ sich den beiden gegenüber Johann Hesenius vernehmen, während er den nunmehr von ihm gelesenen Brief zurückreichte.

      „Das Ganze ist aber doch zu eigenartig“, sagte Ulrich, und überhörte dabei die vom Vater ausgesprochene Missbilligung, da er mehr zu sich selbst sprach. Es kam häufiger vor, dass er die Menschen um sich herum vergaß, wenn ihn Fragen beschäftigten und diese sich seiner weiteren Betrachtung entzogen, „eigenartig zunächst einmal aus dem Grunde, dass ich Eilerts Herrn nicht kenne.“

      „Nun, offensichtlich kennt er dich.“ Johann Hesenius verspürte durchaus keine Neigung, in die Gedankengänge seines Sohnes einzusteigen, seine Überlegungen waren wie immer geradlinig und durch und durch praktischer Natur.

      „Lengsdorp schreibt, er habe vernommen, dass du Medizin studiert hast. Gott weiß, dass ich damals wie heute keine Veranlassung habe, davon ein großes Aufheben zu machen, doch für eine jede Zunge, die hierüber stumm bleibt, findet sich woanders eine, die mit umso größerem Eifer darüber reden wird. Überdies muss er zu den Geschichten über meinen studierten Sohn vernommen haben, dass du übers Jahr zu uns nach Hamburg zurückgekehrt bist und eine Nachricht dich am ehesten hier im Kontor erreichen werde.“

      Der Unwillen in des Vaters Worten mündete sonst leicht in einen Streit mit seinem Sohn, doch dessen Gedanken waren längst weiter geeilt und er schüttelte nur den Kopf darüber, dass Johann Hesenius ausgesprochen hatte, was doch ohnehin offensichtlich war.

      „Ihr versteht die Sätze nur, wie sie geschrieben stehen, Vater, aber das, was nicht geschrieben steht, ist es, das mich so eigenartig dünkt. Lengsdorp mag von anderen Geschichten über mich gehört haben und mich daraufhin für einen Gelehrten der Medizin halten – doch warum sollte er überhaupt auf die Idee verfallen, jemanden zu Rate ziehen, den er selbst nie gesehen hat und der sich zudem noch nicht einmal einen Arzt nennen darf? Für die Beschau eines Toten sollte er sich aus der Ärzteschaft der Stadt doch leicht die Dienste eines gut beleumdeten Mannes sichern können?“

      Da eine Antwort ausblieb, fuhr Ulrich in seiner Betrachtung fort.

      „Wenn der Unbekannte, um den es geht, einer Krankheit erlag, so wird es doch gewiss einen Arzt gegeben haben, der ihn behandelt hätte? Dann könnten wir annehmen, dass dieser ratlos oder wenigstens unsicher ist, was die Todesursache angeht. Wenn Lengsdorps Bitte aber zu bedeuten hätte, dass der Mann durch ein unglückliches Geschick aus dem Leben gerissen wurde, so kann es dafür keine Zeugen geben, denn anderenfalls bedürfte es ja überhaupt keiner weiteren Untersuchung.“

      „Wohin soll all die Fragerei, zu der du hier anhebst, schon führen? Du wirst ohnehin sehen, was für eine Bewandtnis die Sache hat, wenn du dich erst hinbegeben hast, diesen Toten in Augenschein zu nehmen!“ Die Beiläufigkeit, mit der Johann Hesenius diese Worte ausgesprochen hatte, führte dazu, dass Ulrich länger brauchte als gewohnt, bis er ihre volle Tragweite erfasst hatte.

      „Dann erlaubt Ihr, dass ich gehe?“ fragte er vorsichtig.

      „Nun, sicher doch! Lengsdorp hat einigen Einfluss in der Kaufmannschaft. Es sind nicht wenige, die meinen, er werde bald dem Rat angehören. Es wäre gar zu unschicklich, auch gegen seinen alten Vater, den ich wohl kannte, diesen Dienst, den er erbittet, zu verweigern!“

      Die Türglocke schellte erneut, und zwei Frauen, von denen die jüngere zwei sehr kleine und dick eingemummte Kinder an der Hand führte, betraten das Kontor. Johann Hesenius schickte einen freundlichen Gruß zu ihnen herüber. Die neue Kundschaft weckte den langsam arbeitenden aber stets dienstbaren Geist des alten Harm, der sich ihren Wünschen widmete.

      Obwohl Ulrich bei der Aussicht, für den Rest des Tages seine enge Schreibstube zu verlassen und gar für Stunden zur Medizin zurückzukehren, innerlich frohlockte, fühlte er doch die Notwendigkeit, seinen Vater darauf hinzuweisen, dass hierüber all seine Schreibarbeit wenigstens bis zum morgigen Tag liegen blieb.

      „Ich habe gerade erst angefangen, die neuen Warenlisten zu übersetzen, und es sind bislang auch nur zwei der vier Briefe geschrieben, die du für die Gilden in Helsingborg gewünscht hast!“, gab er zu bedenken.

      „Es hat weiter keine Eile, denn der Winter ist so streng wie alle Jahre. Und selbst wenn es in den nächsten Wochen einmal auf Tauwetter zuginge, so werden wir doch nicht vor Ende März das erste Schiff auf Fahrt schicken und auch die Briefe befördern können. Gib acht, dass du mir die Listen Ende nächster Woche vorlegen kannst, dann ist es gut! Hast du in allen Zeilen darauf geachtet, den Platz zu lassen für das, was ich nachzutragen habe? Ich werde bis dahin die neuen Kurse beim Wechsler erfragt haben, so dass ich die Summen errechnen und jeweils passend notieren kann!“

      Ulrich bejahte dies, und nun endlich