Das kalte Licht. Ludger Bollen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludger Bollen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935436
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von Nutzen sein, zusammengesucht und eingepackt hatte, machte er sich auf den Weg. Zum Neuen Ellerntor war es ein gutes Stück Wegs, zudem waren die Straßen rutschig, und er mochte unterwegs sehr wohl das eine oder andere Mal aufgehalten werden. Bald holte ihn der kalte dunstige Atem dieses Tages ein, und er begann zu frösteln, obwohl er kräftig ausschritt.

      Der flache Hut aus schwarzem Wollfilz wärmte die Ohren nicht übermäßig, und so ging er, den Kopf leicht gesenkt und bis zum Kinn eingetaucht in den breiten Wollschal über seinem Umhang. Dazu presste sich sein linker Arm fest gegen die recht dicke, lederne Tasche, welche er sich mit einem langen Riemen über die Schulter gehängt hatte.

      Als Ulrich St. Katharinen passierte, ließ das Glockenwerk der Turmuhr einen einzelnen Schlag ertönen. Einem fernen Echo gleich, wehte von einem der anderen Kirchtürme nochmals ein einsilbiger Ton hinterher. Unwillkürlich ging sein Blick nach oben, wo die Zeiger des Zifferblatts halb drei Uhr anzeigen mussten, doch schon auf halber Höhe begann die Fassade des Turms für das Auge zu verblassen, und mit jedem weiteren Fuß, den sein Blick aufwärts wanderte, wurde der Kirchturm zu einem körperlosen Schemen, um schließlich vollends in grauer, nebliger Eintönigkeit unterzugehen. Im Dunkel der vergangenen Nacht hatten Schwaden feuchter Luft über den Eisflächen Einkehr gehalten, hatten sich ausgebreitet und jeden Winkel der Stadt durchzogen. Selbst jetzt, da die Helligkeit des Tages noch gut zwei Stunden anhalten würde, hielt der graue Schleier alle Umgebung so gründlich verhängt, dass sie schon auf kurze Entfernung ihrer Farben und Konturen entkleidet war. Aus dem Häusermeer quollen unentwegt dunkle Rauchfahnen aus hunderten von Schornsteinen, stiegen auf, wie um die Trübnis des Tages noch zu vermehren, ehe sie, einige Klafter über dem Dächern, zögerlich von einem schwachen Wind erfasst und nach und nach zerzaust wurden.

      Er hatte eine südliche Route durch die Stadt eingeschlagen, um dem Gedränge der Menschen und dem Verkehr der Kutschen und Fuhrwerke auf der recht breiten Steinstraße zu entgehen. Der Weg führte direkt am Elbhafen vorbei, wo die Schiffe, die nicht zur Ausbesserung oder Umrüstung auf Helge lagen, nunmehr seit Monaten so unbewegt ruhten, als habe sich die winterliche Erstarrung von der trostlosen weißen Eisfläche, die sie umgab, auf sie selbst übertragen und jeden Winkel ihrer Holzrümpfe erfasst. Über den dicht gedrängt nebeneinander liegenden Fleuten und Pinassen, den vielen Ewern und anderen kleineren Booten ragte ein kahler Wald von Masten empor. Nicht ein Fetzen Segeltuch ließ sich darin ausmachen, auch die Rahen hatte man bei Wintereinbruch abgetragen und verstaut. Längst war jede Handbreit Holz und jedes verbliebene Tau von Schnee und Eis mit einer frostigen Haut versehen. Nichts erinnerte mehr an das unentwegte, geschäftige Treiben, das hier vor Monaten geherrscht hatte. Die betäubende Vielfalt der Gerüche, die zu anderer Zeit von diesem Ort aufstiegen, war entschwunden, es fehlten das Stimmengewirr und die beständigen Rufe der Seeleute und Hafenarbeiter. Das Quietschen, Knarren und Schaukeln der Schiffe und ihr Auf und Ab im Tidenhub waren gewichen, und ebenso hatte die Eisdecke das vormalige sanfte Rauschen und Glucksen des Flusses und die ans Ufer klatschenden Wellen erstickt.

      Ein versprengter Haufen von Arbeitern trotzte der erzwungenen winterlichen Ruhe, indem die Männer Hammer und Pickel schwangen gegen einen aufgetürmten Berg von in- und übereinander geschobenen Eisschollen. Oh ja, das Eis konnte gefährlich werden und einen ihm preisgegebenen Schiffsrumpf mit dumpfer, seelenloser Naturgewalt zerdrücken, wenn man es zu sehr gewähren ließ.

      Hesenius passierte den gewaltigen Neuen Kran an der Kajenmauer, von dem es hieß, er könne ein Dutzend großer Fässer auf einmal heben, und der nun so unbeweglich stand wie ein dickleibiger, eingefrorener Riese.

      Auf der gebogenen Hohen Brücke rutschte er plötzlich aus, wusste sich aber durch rasches Zupacken am Geländer auf den Beinen zu halten. Hinter dem Schaartor begann die Neue Stadt, und als Ulrich von der Brücke überm Herrengrabenfleet voranschritt, belebte sich das Straßenbild zusehends. Das Gedränge des Schaarmarkts umfing ihn, und unvermittelt sah er sich einer Menschentraube gegenüber, in der wie auf Zuruf plötzlich alle johlten und applaudierten. Einen Moment lang glaubte Ulrich, er sei womöglich in die Vorstellung einer fahrenden Theatertruppe geraten, doch das Schauspiel, das die Umstehenden so prächtig zu unterhalten wusste, lieferten nur ein redegewandter Zahnbrecher und sein schmerzgeplagter Komparse. Während ersterer mit triumphierender Gebärde seine Zange in die Luft reckte, um allen Anwesenden den bezwungenen Schmerzenszahn zu zeigen, wobei er überaus wortreich die Tapferkeit seines Patienten lobte, kauerte dieser stumm und blass auf einem Schemel und bemühte sich doch zugleich um eine Haltung, die der gaffenden Menschenmenge um ihn herum angemessen war, so dass er endlich mit geschlossenem Mund ein gequältes Lächeln zuwege brachte.

      In der Mitte des Marktplatzes gab es eine offene Feuerstelle, wo Besucher und Verkäufer zwischendurch ihre in der Kälte mitunter taub gewordenen Glieder aufwärmen konnten, aber Ulrich war es daran gelegen, Engstellen und große Menschenknäuel zu meiden, und so durchquerte er rechter Hand den Platz, ohne in die dichtstehenden Reihen der Marktstände einzutauchen. Der anschließende Straßenzug führte geradewegs an der Großen Michaeliskirche vorbei, deren Bau er als Kind so häufig staunend verfolgt hatte.

      Dem Kirchengemäuer gegenüber erklang nun allerdings sehr weltliches Gelächter, gemischt mit Rufen, die leicht aus dem Stimmengewirr der Straße hervorstachen, da sie ohne Zweifel von englisch sprechenden Zungen herrührten. Die Urheber, sechs durchaus würdevoll gekleidete Herren im besten Mannesalter, hatten sich auf dem abschüssigen Boden vor einer dichtstehenden Reihe von Brettern versammelt, die man in die Erde getrieben hatte. In ihrem solchermaßen begrenzten Feld, waren sie in ein Ballspiel vertieft, bei dem sie im Wettstreit eine Anzahl hölzerner Kugeln auf ein Ziel zu werfen trachteten, welches Ulrich nicht mehr ausmachen konnte. Etwas von der unbeschwerten Fröhlichkeit, das dem Spiel dieser Männer zu eigen war, fand für einige Augenblicke Eingang in sein Gemüt und zerstreute die Fragen, die er in Gedanken aufwarf.

      Was mochte es mit jenem Toten auf sich haben, den es zu beschauen galt? War er einem seltsamen Übel erlegen oder eines gewaltsamen Todes gestorben? Und warum, um alles in der Welt, war ausgerechnet an ihn die Bitte ergangen, diesen Leichnam zu untersuchen? Hatte er bis dahin in der Gewissheit gelebt, seine Person sei über den kleinen Umkreis von Familie, Freunden und Bekannten hinaus gänzlich unbekannt, so wusste er nunmehr unter den bedeutenden Kaufleuten der Stadt jemanden, der auf ihn, den geradezu Namenlosen, besondere Hoffnungen setzte. Ihn selbst hingegen überfielen Zweifel, ob seine in der Medizin erlangte Fertigkeit wirklichen Nutzen zeitigen werde.

      Er hatte betretenes Schweigen erlebt, wenn er anderen gegenüber zu schildern suchte, wie das Studium im Anatomiesaal beschaffen war, Männer, die ihr Unverständnis über seine Leidenschaft mit zotigen Anekdoten bekundeten, und Frauen, die sich im Anschluss an seine Erzählung versteckt bekreuzigten, als gelte es, sich ob der vernommenen Frevel himmlischen Beistands zu versichern. Nicht dass er deswegen an dem Gelernten gezweifelt hätte, aber soweit er die Menschen in Hamburg kannte, galt ihnen das gelehrte Streben nach Erkenntnis, eher als kauzige Beschäftigung, die keinen rechten Ertrag versprach, und wenn Ulrich von anderen gelehrt geheißen wurde, so war damit zugleich ausgedrückt, dass er ein wenig weltfremd sei und seine Zukunft fraglich und ungewiss.

      Solcherart waren seine Gedanken, da nunmehr zur Linken die Straße allmählich auf die Stadtbefestigungen zuführte, in der das Neue Ellerntor die Pforte in westlicher Richtung bildete.

      Das Neue Zeughaus war auf einem dem Ellerntor vorgelagerten, freien Platz erbaut worden. Männer in Uniformen gingen hier ein und aus und seinem ganzen Wesen nach gehörte das Haus zu den großen Wallanlagen, jenem vielzackigen Festungsgürtel, dem man das glückhafte Überdauern im großen Krieg zuschrieb und der auch jetzt, da doch längst Friede herrschte, rundum mit Kanonen bestückt und Tag und Nacht mit Wachsoldaten besetzt war.

      Ulrich konnte sich erinnern, wie er als Kind bisweilen die Aufmärsche der Soldaten in Reih und Glied verfolgt hatte, doch war er nie zuvor, so wie jetzt, an die Torwache herangetreten.

      Leicht beklommen sprach er einen der beiden Soldaten an, reichte ihm sein Schreiben und bat um Einlass. Statt den Weg einfach freizugeben, wurde Ulrich abschätzend gemustert und sodann verschwand der Mann mitsamt seinem Brief. Hesenius dämmerte zu spät, dass der andere womöglich nicht lesen konnte, aber es war zu spät, die Sache anders anzugehen, und ihm blieb nur, auf seine Rückkehr zu warten.