Sie öffnete die Augen, blinzelte mehrmals, um wieder ganz in der Realität anzukommen. Die Sonne gab der einkehrenden Nacht immer mehr Raum, und es war Zeit, diesen Tag loszulassen.
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Meine liebe Greta,
mir war immer klar, dass die Briefe, Tagebücher und Andenken in diesem Koffer nur in deinen Händen an ihrem richtigen Bestimmungsort sein würden.
Du standst mir immer am nächsten, doch es gibt vieles, das du bisher über deine und meine Geschichte nicht wusstest. Warum ich dir nicht selbst davon erzählen konnte, war nicht nur dem tief in mir wohnenden Schmerz geschuldet, sondern auch einem Versprechen, das ich deiner Mutter gegeben habe. Doch du verdienst die Wahrheit, auch wenn Elisabeth sicher anderer Meinung ist. Sie wird es irgendwann verstehen und wissen, dass es richtig so ist.
Sicherlich ahnt sie, welch Bürde ich dir mit diesem Koffer auf den Weg gebe. Und sicherlich verflucht sie mich dafür. Vielleicht wirst du es auch tun. Vielleicht aber wirst du diese Bürde, meine Geschichte, mit Verständnis und Mut für dein eigenes Leben tragen, mich vielleicht sogar verstehen und vieles, das unausgesprochen zwischen uns blieb, nachvollziehen können.
Und verurteile nicht die Angst einer Mutter, die ihre schützende Hand über dich legen will. Ein Mutterherz wirft sich schützend vor sein Kind, sie wird nichts anderes tun.
Ich hoffe, dass du am Ende dieser kleinen Spurensuche in meiner Vergangenheit meinen letzten Willen erfüllen kannst. Ich konnte es selbst leider nicht mehr.
Folge immer deinem Herzen. Wenn ich etwas aus meinen Fehlern gelernt habe, dann genau das.
Und sei dir sicher, dass das Bündnis, das wir beide unser Eigen nennen konnten, nicht von Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, sondern es einfach sein durfte, was es war. Vertrauen und Heimat.
Deine Hannelore
Greta sah auf die zittrige, leicht undeutliche Handschrift, die offenbarte, wie viel Mühe und Anstrengung dieser Brief ihre Großmutter gekostet haben musste.
Das Blut pulsierte in ihren Adern und rauschte in ihren Ohren wie die unruhige See.
Es war ihr schwerer gefallen als gedacht, den alten Holzkoffer zu öffnen, und noch schwerer, den Brief, der offen oben auflag, zu öffnen und zu lesen. Sie hatte Angst, erneut von ihren Gefühlen überwältigt zu werden, wenn sie auch nur ein Wort ihrer Großmutter las.
Nur mit diesem Koffer und den wenigen Habseligkeiten, die hineingepasst hatten, war Hannelore nach dem Krieg nach Bayern gekommen. Den Koffer hatte sie seither wie einen Schatz gehütet. Niemand hatte ihn anfassen und schon gar nicht öffnen dürfen. Zunächst hatte sie ihn immer in ihrem großen Schlafzimmerschrank und später neben ihrem Bett im Altenheim, wo sie ihn immer im Auge behalten konnte, aufbewahrt.
Hannelore hatte nur selten über die Zeit ihrer Flucht und die Nachkriegszeit gesprochen. Hin und wieder, wenn sie lange beisammengesessen hatten, hatte sie mit Wehmut in ihrem Blick von ihrer alten Heimat erzählt, und der Schmerz über den Verlust dieser war auch Jahrzehnte später noch greifbar gewesen.
Greta hatte ihr stets ergriffen gelauscht, und es hatte ihr wehgetan, ihre Großmutter so zu sehen.
Doch jede Nachfrage hatte ihre Großmutter sofort abgewiegelt und umgehend das Thema gewechselt. Kein weiteres Wort war ihr dann mehr über ihre Vergangenheit über die Lippen gekommen.
Irgendwann hatte Greta es aufgegeben und ihren Frieden damit geschlossen, dass das Leben ihrer Großmutter für sie ein großes Geheimnis bleiben würde.
Bis jetzt.
Akkurat breitete Greta den Inhalt vor sich auf dem Holzboden aus. Zusammengeschnürte Briefe, Heftchen mit der Aufschrift Tagebuch, Fotos, gestrickte Kinderhandschuhe und ein weißes, mit Blumen besticktes Tuch. Daneben ein paar kleinere Pakete, die gut verschnürt ihren Platz im Koffer gefunden hatten und ihren Inhalt gut verbargen.
Minutenlang sah Greta auf das Werk vor ihr, als plötzlich ein schriller Ton die gedrängte Stille durchbrach. Sie schreckte auf und lies den Brief fallen, auf dem sich nasse Abdrücke ihrer Finger gebildet hatten.
Gedankenverloren hangelte Greta nach ihrem Smartphone, und dann wurde sie endgültig in die Realität zurückkatapultiert. Was zum Teufel machst du denn da? schrie immer wieder ihre innere Stimme, als sie das Ende ihres gemeinsamen Weges einläutete, indem sie, nachdem sie diesem Schritt so lange aus dem Weg gegangen war, den Anruf entgegennahm.
Schwere lag in jedem einzelnen Wort, das sie mit Katherine wechselte.
Mit einem Mal war alles so klar, und auch wenn der stechende Schmerz einen letzten Versuch startete, sie umzustimmen, vehement an ihrem Inneren zerrte, sie kurz taumeln ließ, wusste sie, dass sie das Richtige tat. Hoffte zumindest, dass es wirklich das Richtige sein würde.
Ein Blick auf das Vermächtnis ihrer Großmutter schürte immer mehr das Gefühl, an diesem Ort bleiben zu müssen, nicht zurückkehren zu können.
Nicht jetzt.
Ihre innere Stimme verlor schließlich den aufopfernden Kampf. Der Kopf gewann und mit ihm auch ein Stück ihres Herzens, das schon immer wusste, dass dieses Glück nicht von Dauer sein würde.
Sie saugte den Klang ihrer Stimme ein letztes Mal in sich auf, als sie leise, sehr zögernd Abschied nahmen. Und dann hatte Katherine ihr Leben verlassen.
Hitze durchströmte ihren Körper. Nein, es war gut so, wie es war.
Das musste es einfach sein.
8
»Was liest du denn da?« Klara lies sich mit hochrotem Kopf auf den Stuhl gegenüber von Greta fallen.
Im Café herrschte reger Betrieb, den Greta offenbar völlig ausgeblendet hatte. Der Lärm prasselte mit einem Mal unvermittelt auf sie ein wie eine einstürzende Mauer, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
Blitzschnell ließ sie das Tagebuch in ihrem Rucksack verschwinden.
»Bei was genau habe ich dich denn jetzt gestört?«, lachte Klara, während sie sich mit der Getränkekarte eifrig Luft zufächerte.
»Ähm . . . ich . . . war nur gerade so vertieft«, stammelte Greta und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Die Worte ihrer Großmutter hallten nach, tanzten vor ihren Augen, verhallten dann langsam in dem Trubel um sie herum.
Klara sah sie prüfend an, ein Schmunzeln lag auf ihren Lippen. »Das Buch muss ja besonders aufwühlend sein, so verwirrt, wie du mich gerade ansiehst.«
Greta griff nach ihrem Wasserglas und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter. »Nein, ach . . . nein, überhaupt nicht«, wehrte sie ab. »Irgendein Krimi aus der Bücherei. Nichts Besonderes. Ich war nur einfach so vertieft, es wurde gerade richtig spannend.«
Klara sah sie immer noch prüfend an, doch dann gab sie auf. »Du musst mal wieder unter Leute. Spaß haben. Du wirst schon ganz seltsam, meine Liebe!«
»Ich bin doch hier unter Leuten.« Das Café war bis auf den letzten Platz besetzt.
»Nein, ich meinte, du solltest mal wieder ausgehen. Wir beide und ein paar Freundinnen von mir. Du musst mal wieder tanzen!«
Greta verdrehte die Augen. »Ehrlich, Klara? Mir ist wirklich nicht nach tanzen. Mir reichen die Menschen hier schon völlig aus.«
»Das ist doch nicht dasselbe! Komm schon, einfach mal den Kopf freitanzen, nicht so viel nachdenken, nur die Musik spüren.«
»Arbeitest du neuerdings als Werbefuzzi für einen Club?«
Klara zog einen Schmollmund. »Wenn ich dich dadurch dazu bringe, mich heute Abend zu begleiten, dann würde ich auch das machen. Oder hast du schon etwas anderes vor?«
Greta suchte fieberhaft nach einer Ausrede, die ihr diesen Abend ersparen könnte. Doch sie fand keinen Grund, der Klara auch nur im Geringsten zufriedenstellen würde.
Eigentlich