Während sie ihr Zuhause und die so vertraute Umgebung verließen, erstickte Angst und Kummer jegliches Wort. Nur das Knirschen des Schnees unter ihren Schuhen und das Quietschen der Wagenräder durchbrachen die Stille.
Trauermusik.
Erst als sie völlig erschöpft nach stundenlangem Marsch durch die Eiseskälte den rettenden Bahnsteig erreichten, wagte Hannelore, sich das erste Mal umzublicken. Elisabeth hatte sie dick eingewickelt eng an sich gedrückt, damit sie nicht fror.
Der Wind heulte über den Bahnsteig, auf dem sich vermummte Gestalten gegen das dichte Schneetreiben zu schützen versuchten. Gesichter waren kaum zu erkennen. Die Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Mantelkrägen nach oben geschlagen.
In den vergangenen Stunden hatte sie lediglich funktioniert. Wie eine Maschine war sie stur nach vorn geschritten, hatte weder nach links noch rechts geblickt, und schon gar nicht hatte sie den anderen Menschen, die sich ihrem kleinen Tross angeschlossen hatten, Aufmerksamkeit geschenkt. Nur das Ziel zählte.
Sie wollte nicht daran denken, was sie zurückließ. Sie wollte nicht den kleinsten Gedanken daran verschwenden, dass sie ihre Heimat, so wie sie sie kannte, womöglich nie wiedersehen würde. Ihre einzigen Gedanken galten dem kleinen Geschöpf auf ihrem Arm, das es zu beschützen galt.
Nein, Hannelore hatte sich kein einziges Mal umgesehen.
Bis jetzt.
Die Gruppe, die sich ihrem Tross angeschlossen hatte, stand dichtgedrängt zusammen. Sie verschwammen zu einem schneebedeckten, zitternden Häufchen.
Doch plötzlich löste sich aus dem Gedränge eine kleine, zierliche Gestalt. Wirre blonde Locken umspielten das zarte, von der Kälte gerötete Gesicht.
Die Stimmen der Wartenden um Hannelore herum verschwammen. Und mit einem Mal war es still. Nur ihr wummernder Herzschlag pulsierte in ihren Ohren.
Genau wie damals.
Damals, als sie diese gleichzeitig zarte und wilde Frau auf einer Feier eines ehemaligen Schulkameraden das erste Mal gesehen hatte, wie sie auf den Holztreppen im Treppenhaus sitzend lässig an ihrer Zigarette gezogen und den Rauch in die flackernde Dämmerung geblasen hatte, während im Stockwerk über ihr hitzige Tanzmusik nach draußen dröhnte.
Damals, als sich ihr Herzschlag in einem Sekundenbruchteil mit dem Wummern der Musik vereint und sie dieses Gefühl, das sie noch nie zuvor verspürt hatte, verwirrt in die tanzende Menge getrieben hatte.
Die tanzende, aufgeheizte Menge hatte sie verschlungen. Aufforderungen zum Tanz ließ sie links liegen, klammerte sich an das Glas, das ihr ein attraktiver junger Mann in die Hand gedrückt hatte, während ihr Blick an der Eingangstür verweilte, durch die die schöne Unbekannte nun das Geschehen betrat.
Sie erweckte den Eindruck, zugleich unerreichbar und doch erreichbar zu sein. Die jungen Männer bedachte sie mit einem bezaubernden Lächeln, doch ihre Avancen, die ihr von allen Seiten zuteil wurden, erwiderte sie nicht weiter.
Dennoch schien sie die Aufmerksamkeit zu lieben, ließ sich geradezu von ihr tragen und lachte dabei das schönste Lachen, das Hannelore jemals zuvor gesehen hatte.
Sie konnte ihren Blick nicht von dieser wunderschönen Frau abwenden.
Und dann, als sich ihre Blicke trafen und verweilten, verlor Hannelore jegliches Gefühl für Zeit und Raum.
Wie dieser Abend hätte verlaufen können, diese Frage hatte sie sich nicht nur einmal gestellt. Denn in jenem Moment, übermannt von einem Rausch an Gefühlen, der ihr vor allem Angst einflößte, hatte sie in Windeseile und kopflos den Ort des Geschehens verlassen und war allein in die laue Sommernacht verschwunden.
Weg von ihr.
Doch sie hatte sie eingeholt.
5
August 2019
»Einen Espresso, bitte. Extra stark. Doppelt und tiefschwarz.«
Ein sanfter Windstoß trug herrlich warmen Sommerduft in die kleine Küche. Raschelnde Blätter des Ahornbaums vor dem Fenster sangen eine leise Melodie. Das geöffnete Fenster mit seinem schönen alten Holzrahmen schaukelte von der Melodie getragen leicht auf und zu.
Greta hatte ihren Kopf seitlich auf die kühle Tischplatte gelegt, sie betrachtete die Welt in Schieflage. Und endlich passte das reale Bild zu ihrem inneren Bild des aktuellen Weltgeschehens.
Ein Stuhl wurde zurückgezogen, und Klara setzte sich zu ihr an den Tisch, den Kopf ebenfalls auf die Tischplatte legend, um ihrer Freundin in die Augen sehen zu können.
Sie mochten ein komisches Bild abgeben in diesem Moment, aber wen sollte es stören?
Greta forschte in ihren Erinnerungen nach Momenten, in denen sie sich genauso haltlos und schwermütig gefühlt hatte wie in diesem Augenblick. Doch sie konnte sich an keinen vergleichbaren Moment erinnern. Noch nie hatte etwas ihre Welt so aus den Angeln gehoben.
Sie hatte tagelang geweint, bis die Tränen versiegt und eine Leere die Trauer verdrängt hatte. Sie fühlte sich wie ausgekotzt.
»Deine Großmutter hat immer so von ihrer Enkelin geschwärmt, die hinaus in die Welt gezogen war und sich den Abenteuern des Lebens gestellt hatte. Sie war so stolz auf deinen Tatendrang und deine Neugierde. Durch deine Geschichten und Erzählungen hatte sie das Gefühl, selbst all die wunderbaren Orte bereist zu haben. Dich so zu sehen, würde ihr das Herz brechen.«
»Aber sie sieht mich nicht mehr. Es gibt kein Herz mehr, das ich brechen könnte.«
Ein harter Boxhieb traf Gretas Schulter, und sie zuckte zusammen.
»Glaubst du wirklich, Hannelore möchte, dass du dich so hängenlässt? Dass du deinen Tatendrang verlierst? Sie war es doch immer, die dich ermutigt hat, deinen Sehnsüchten nachzugehen. Nichts zu versäumen.«
Greta rieb sich die Schulter und richtete sich leise vor sich hingrummelnd auf. »In mir ist kein Tatendrang. Ich spüre keine Kraft, mich aufzuraffen. Ich will mich auch gar nicht aufraffen. Das bringt doch alles sowieso nichts.«
Klara richtete sich ebenfalls auf und stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. »Das ist völlig in Ordnung. Für jetzt. Für heute. Für die nächsten Tage. Aber dann musst du aufstehen, dich schütteln, nach vorn sehen. Dein Leben geht weiter, Greta!«
»Alles ist aus den Fugen geraten. Ich hatte ein Leben, in dem ich glücklich war. Ich habe mich endlich nach langer Zeit wohlgefühlt, hatte mir vorstellen können, an einem Ort endlich länger zu bleiben. Und jetzt? Plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Ich bin hier und habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich habe überhaupt keinen Plan.«
Klaras Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich finde es sehr schön, dich nach der langen Zeit wieder hierzuhaben. Auch wenn ich weiß, dass das nicht von Dauer sein wird.«
»Meine Eltern haben mich auch schon gefragt, ob ich nicht länger bleiben will.«
Klara schob die noch volle Tasse Kaffee von sich. »Und was hast du ihnen gesagt?«
Greta zuckte die Schultern. »Das gleiche wie dir. Ich weiß es nicht. Es ist, als hätte ich den Faden verloren. Egal ob ich daran denke, hierzubleiben oder nach Kanada zurückzugehen, nichts scheint in diesem Moment plausibel. Ich kann gerade keine Entscheidung treffen.«
»Du kannst die Wohnung mindestens ein Jahr lang zur Untermiete haben, das weißt du. Vorher wird Helena nicht aus Australien zurückkehren. Was das angeht, musst du dir also keinen Druck machen.«
Greta nickte und versuchte ein Lächeln, als sie Klara ansah. »Fürs Erste bleibe ich hier. Ich versuche, nichts zu überstürzen und schaue einfach, wie sich die nächsten Wochen entwickeln.« Dann griff sie über den Tisch nach Klaras Hand. Sie lag warm und weich in ihrer, als sie sagte: »Ich freue mich doch auch, dich endlich wiederzusehen. Und ich bin sehr dankbar, dass du an meiner Seite bist. Dass du es die ganze Zeit warst und jetzt noch umso mehr.«