Die Heimat in uns. Jenny Green. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jenny Green
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956093180
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stehen die russischen Truppen nicht einmal mehr zweihundert Kilometer vor Opeln. Der Gustav hat es mir gestern gesagt, und der wiederum hat es bereits von vielen seiner Kollegen gehört.«

      Hannelore hörte ihrer Tante leise zu. Sie war in den letzten Tagen oft selbst durch die Stadt gelaufen, hatte überall die Ohren gespitzt, hatte jeden noch so kleinen Informationsfetzen aufgesaugt. Die Wehrmachtsberichte und Durchhalteparolen in den Zeitungen sagten ihnen nicht die Wahrheit, da war sie sich sicher. Die Wahrheit lag irgendwo zwischen den Gerüchten, die unter vorgehaltener Hand ausgetauscht wurden und die langsam wie ein dichtes Spinnennetz die Stadt überzogen.

      Hannelore hatte auch gehört, dass man vor wenigen Tagen der Abschreckung wegen einen Mann erschossen hatte, weil er Gerüchte in der Stadt verbreitet hatte. Vor aller Öffentlichkeit, vor Frauen und Kindern.

      Kaum einer wagte es mehr, öffentlich den Mund aufzumachen, doch hinter vorgehaltener Hand, in versteckten Ecken und Verschlagen, in Hausfluren und Hinterhöfen, bahnten sich die Geschichten doch ihren Weg, weil sie die Menschen innerlich zu zerfressen drohten.

      Unterhielt man sich auf offener Straße für alle mithörbar, so beschränkten sich die Gespräche auf das Wetter oder darüber, was man aus den letzten Vorräten noch kochen könnte. Ahnungslosigkeit heucheln, als würde man sich für dumm verkaufen lassen.

      Vor dem Fenster zogen immer wieder Flüchtlinge mit ihren vollbeladenen Bauernwagen vorbei. Angeblich kamen sie aus der Gegend östlich von Ratibor. So sprach es sich zumindest herum.

      »Gustav meinte, wir sollen uns möglichst bald überlegen, wohin wir gehen wollen«, flüsterte Tante Margot eindringlich weiter. »Er sagt, wir sind hier nicht mehr lange sicher.«

      Hannelores Mutter sah erschrocken auf. »Wohin sollen wir denn gehen? Überall herrscht Krieg.« Sie drückte die kleine Elisabeth noch enger an sich. Das kaum ein paar Monate alte Kind wusste noch gar nicht, in welch schreckliche Welt es geboren worden war und welch schreckliches Schicksal es bereits auf seinen kleinen Schultern trug. »Das hier ist doch alles, was wir haben! Das ist unser Zuhause!«

      Elisabeth war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Immer wenn Hannelore in das Gesicht ihrer Tochter sah, wurde sie schmerzlich daran erinnert, dass Elisabeth ihren Vater wahrscheinlich nie kennenlernen würde. Sie würde ohne Vater aufwachsen müssen.

      Als sie die Nachricht erhalten hatte, dass Ernst vermisst werde, hatte sie fast ein Jahr lang inständig gehofft, doch noch Nachricht von ihm zu bekommen. Doch alles blieb still, und die Hoffnung, ihn noch einmal zu sehen, starb jeden Tag ein Stück mehr.

      Sie hatten nur noch sich. Drei Frauen und ein unschuldiges kleines Kind blickten dem Schrecken vor ihren Fenstern angstvoll entgegen und wussten, dass sie nun noch enger zusammenrücken mussten.

      3

      August 2019

      »Du kannst doch nicht so einfach von der Trauerfeier verschwinden. Was sollen die Leute denken? Ich habe dich überall gesucht.«

      Greta schnaubte verächtlich. »Du meinst das scheinheilige Getue, den Klatsch und Tratsch, der ausgetauscht wird, über den lauthals gelacht wird, kurz nachdem die Verstorbene unter der Erde liegt? Sollen sie doch denken, was sie wollen. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig.«

      Gretas Mutter legte das Geschirrtuch beiseite, stützte sich an die Küchenzeile und sah Greta an. »Deine Großmutter hätte sich gefreut.«

      Greta schüttelte den Kopf. »Oma ist tot. Außerdem hätte sie es verstanden. Sie mochte diese komischen Traditionen doch selbst nicht.«

      »Wie du meinst.« Gretas Mutter setzte ihre Arbeit fort, um sie kurz danach doch noch einmal zu unterbrechen. »Wir haben übrigens übermorgen einen Termin beim Nachlassgericht. Hannelores Testament wird eröffnet. Kannst du das bitte einrichten?«

      Greta ließ sich schwer auf die alte, hölzerne Eckbank fallen, angelte über den Tisch nach der Kaffeekanne und goss ihre Tasse bis zum Rand voll.

      Ihr Vater warf ihr einen flüchtigen Blick über den Zeitungsrand zu, ehe er sich wortlos in den nächsten Artikel vertiefte. Mehr als ein Brummen hier und da hatte er der aufgeladenen Stimmung zwischen den Frauen nicht hinzuzufügen. Er wusste, wann es besser war zu schweigen.

      »Muss ich denn unbedingt dabei sein?«, seufzte Greta.

      »Tu es nicht für mich, tu es für deine Großmutter«, erwiderte Gretas Mutter resigniert. Sie wirkte müde. Dunkle Augenringe zeichneten ihr Gesicht.

      »Gut, schön, ich werde da sein«, gab Greta nach und leerte ihren Becher in Windeseile.

      Als sie gerade nach ihrem Rucksack greifen und aufstehen wollte, trat ihre Mutter an den Tisch, zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihrer Tochter. Dabei rieb sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hüfte, die ihr schon so lange Probleme bereitete. Doch einen Arzt aufzusuchen, hielt sie für völligen Humbug. Das eine Wehwehchen hie und da war schließlich bei einer fünfundsiebzigjährigen Frau nichts Ungewöhnliches und kein Grund zur Panik. Lieber biss sie die Zähne zusammen, bevor sie ihrem Stolz nachgab. Das bisschen Rückenschmerzen war doch nicht der Rede wert.

      Eindringlich sah Elisabeth ihre Tochter an, was Greta dazu bewog, den Rucksack wieder loszulassen und sich, wenn auch widerwillig, noch einmal zu setzen. Fragend sah sie ihre Mutter an.

      »Und danach?«

      »Was meinst du?«

      »Willst du danach gleich wieder weg?« In Elisabeths Augen spiegelte sich Kummer.

      Greta benötigte etwas Zeit, ehe sie antworten konnte. Doch eine wirkliche Antwort hatte sie nicht. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, wie es weitergehen wird. Vielleicht, ja. Keine Ahnung.«

      Sie hatte ihre Zelte überstürzt in Kanada abgebrochen, ihr weniges Hab und Gut gepackt und hatte sich hineingestürzt in den Strudel aus Ungewissheit, Trauer und Bodenlosigkeit, sodass jeglicher Gedanke an die Zukunft, sei es die nahe oder die ferne, bisher keinen Platz darin gehabt hatte.

      »Willst du nicht etwas länger bleiben? Wir würden uns so freuen. Nicht wahr, Johann?«

      Und in der Tat legte Gretas Vater jetzt doch die Zeitung zur Seite und nickte zustimmend. »Hier ist es doch auch schön. Woanders ist es doch auch nicht besser.«

      »Hier in Winterberg?« Kaum hatte sie es ausgesprochen, baute sich erneut das Gefühl von Enge in Greta auf, das sie nur allzu gut kannte.

      »Du musst ja nicht gleich zurück ins Dorf ziehen. Aber du hast doch jetzt die kleine Wohnung in der Stadt. Das wäre immerhin nicht so weit weg von uns.«

      »Ich . . . ich weiß nicht«, stammelte Greta. »Ich muss erst einmal einen klaren Kopf bekommen, bevor ich entscheide, wie es weitergeht.«

      »Lass dir Zeit«, brummte Gretas Vater. »Wenn du etwas brauchst, wenn wir dich unterstützen können, dann lass es uns wissen.«

      Greta winkte ab. »Macht euch keine Sorgen, ich habe Ersparnisse, und ich will euch nicht zur Last fallen. Und ich kann euch nichts versprechen.« Doch seine Fürsorge rührte sie.

      Elisabeth versuchte ein Lächeln, doch Greta sah ihr an, welche Sorgen ihre Mutter plagten.

      »Wir sehen uns übermorgen«, schob Greta ihre Verabschiedung an. »Ich will jetzt einfach nur noch ins Bett. Seid mir nicht böse.«

      4

      Breslau, 30. Dezember 1944

      Gustav hatte die wenigen Habseligkeiten der Frauen auf seinen alten Karren gepackt, dem die Frauen nun schweigend hinterhereilten. Keine von ihnen wagte einen letzten Blick zurück. Zu schmerzhaft wäre der Blick auf ihr verlorenes Zuhause gewesen. Ein Blick zurück hätte sie vielleicht doch noch einmal zweifeln lassen.

      Ihnen hatten sich zwei weitere Familien angeschlossen, die nun mit Gustavs Hilfe den Abschiedsmarsch zum nächsten Bahnhof antraten, von wo aus sie ein Zug über Prag ins sichere, aber unbekannte Bayern bringen sollte.

      Die