Die Heimat in uns. Jenny Green. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jenny Green
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956093180
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hielt den kleinen alten Holzkoffer fest an sich gedrückt, als sie im Wartezimmer des Notars auf ihre Eltern wartete. In ihr drehte sich alles. So sachlich der Notar auch aus dem Testament ihrer Großmutter zitiert hatte, so aufwühlend war jedes einzelne Wort für Greta gewesen.

      Ein unangenehmer Termin.

      Nachdem Greta im letzten Willen ihrer Großmutter bedacht worden war, wurde sie gebeten, im Wartezimmer Platz zu nehmen, bis alles Weitere, das lediglich ihre Eltern betraf, geregelt worden war.

      Mit weichen Knien hatte sie den Raum zögernd verlassen.

      Ihre Gedanken fuhren Karussell und überschlugen sich ein ums andere Mal. Hannelore hatte dem Notar kurz vor ihrem Tod einen kleinen Koffer anvertraut, der ihn nun an Greta übergeben hatte. Dazu hatte er ein paar Worte ihrer Großmutter verlesen, die ihr bedeuteten, dass sie den Inhalt des Koffers vertraulich und allein öffnen sollte. Mehrmals hatte Hannelore dies in der Nachricht an sie betont, sodass keine Zweifel an ihrem Willen aufkommen konnten.

      Ihre Mutter schien bei jedem Wort ein Stückchen mehr in ihrem Stuhl zusammenzusinken. Die Farbe war langsam aus ihrem Gesicht gewichen.

      Greta hatte das den vergangenen anstrengenden Tagen zugeschrieben. Zudem hatte der August zu einer erneuten Hitzewelle ausgeholt, die die Luft in den Räumen wie eine Wand stehen ließ. Hitze hatte ihre Mutter noch nie allzu gut vertragen.

      Nach wenigen Minuten schien es ihrer Mutter auch wieder besser zu gehen, doch immer wieder warf sie einen prüfenden Blick auf den Koffer, den Greta auf ihrem Schoß abgelegt hatte. Ihre Hände lagen oben auf, um ihren Schatz, das letzte Geschenk ihrer Großmutter, zu hüten.

      Als Greta schließlich das Zimmer verließ, folgte ihre Mutter ihr mit einem durchdringenden Blick, der Greta unweigerlich innerlich zusammenzucken ließ.

      Nervös rutschte sie nun auf dem Stuhl hin und her. Sie saß allein in dem kleinen Wartebereich. Nur das Ticken der Wanduhr erfüllte den Raum.

      Greta war kurz davor, ihrem Drang nachzugeben und aufzuspringen, als sich die Tür öffnete und ihre Eltern erschienen, die sie mit mattem Gesichtsausdruck ansahen.

      Doch in Elisabeths Blick funkelte noch etwas anderes, das Greta nicht sofort greifen konnte. »Was ist los?«, fragte sie ihre Mutter umgehend, als ihre Eltern auf sie zu kamen. »Geht es dir wieder besser?«

      »Lass uns jetzt einfach gehen«, entgegnete ihre Mutter kurzangebunden, schüttelte dem Notar ein letztes Mal mit versteinerter Miene die Hand und verschwand schnurstracks ins Treppenhaus.

      Greta und ihr Vater folgten ihr wortlos.

      Draußen angekommen hatte sich ihre Mutter auf die Bank vor dem Haus gesetzt und schien nach Luft zu japsen.

      Schnell waren Johann und Greta bei ihr.

      Greta kniete vor ihr nieder und sah sie sorgenvoll an. »Mama, was ist denn los? Brauchst du etwas?«

      Elisabeth atmete schwer ein und aus, dann blieb ihr Blick erneut auf dem Koffer haften, den Greta neben sich auf dem Kopfsteinpflaster abgestellt hatte. »Willst du ihn wirklich allein aufmachen?«

      »Es war Omas ausdrücklicher Wille«, entgegnete Greta. »Sie wird ihre Gründe gehabt haben.«

      Elisabeth sah hoch in den blau-weißen Sommerhimmel. Dann verdunkelte sich ihre Miene schlagartig. »Das war sicher wieder eine ihrer Schnapsideen«, fauchte sie. »Nicht einmal jetzt kann sie Frieden geben.«

      Johann und Greta sahen sie erschrocken an.

      »Warum willst du denn in der Vergangenheit kramen?«, fügte Elisabeth noch hinzu, dann rappelte sie sich schwerfällig auf. »Hannelore ist tot, kann die Vergangenheit nicht endlich ruhen?« Mit jedem Wort wurde ihr Ton schärfer.

      Greta schluckte schwer. Sie wusste nicht, was in ihre Mutter gefahren war.

      »Komm, Johann, wir fahren, ich muss mich hinlegen.« Ohne eine Antwort abzuwarten stand Elisabeth auf und zog Johann am Oberarm mit sich.

      Er schenkte seiner Tochter einen letzten entschuldigenden Blick, ehe sie ohne ein Wort des Abschiedes um die Ecke zum Parkplatz verschwanden und Greta allein und ratlos zurückließen.

      Erst jetzt bemerkte Greta, dass sie anscheinend die Luft angehalten hatte. Sie atmete aus, um sogleich wieder nach Luft zu schnappen. Was sollte das eben? Warum war ihre Mutter so aufgebracht?

      Und gleichzeitig regte sich neben dem Unverständnis auch Wut in ihr. Wut auf etwas, von dem sie anscheinend keine Ahnung zu haben schien. Etwas, das zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter geschehen sein mochte, als Greta nicht hier war.

      Aber sie würde es herausfinden, ob ihre Mutter es wollte oder nicht. Nun war ihre Neugierde auf das im Koffer Verborgene erst recht geweckt.

      Entschlossen griff sie nach dem Henkel, machte kehrt und marschierte in Richtung der nächsten Bushaltestelle, ohne sich noch einmal umzusehen.

      6

      Zwischen den Grenzen

      Das gleichmäßige Rattern des Zuges hatte die kleine Elisabeth, die in Margots Armen lag, langsam in einen sanften Schlaf gewogen. Sie wusste zum Glück nicht, was um sie herum passierte. Die Anstrengung des Tages hatte dennoch ihren Tribut gefordert und äußerte sich in langen Weinkrämpfen Elisabeths, die an den Nerven aller zerrten, so sehr man Rücksicht auf die Kleinsten unter ihnen nehmen wollte.

      Hannelores Rücken schmerzte. Das lange Sitzen auf den Holzbänken, die jedes Holpern des Zuges in alle Winkel des Körpers übertrugen, machte sie mürbe.

      Der Zug war bis auf den letzten Platz besetzt. Sogar auf dem Boden, zwischen all den Habseligkeiten, hatten sich die Menschen gedrängt. Hauptsache weg, egal wie, hatten sich viele gedacht und sich in den vollen Zug geschoben.

      Hannelore konnte keine Sekunde länger sitzen. Sie stand auf, bot einem Mädchen, das neben ihr auf dem Boden kauerte, ihren Platz an und stieg über alle Hindernisse hinweg, bis sie einen kleinen freien Platz fand, auf dem sie ein paar Schritte hin und her gehen und sich strecken konnte.

      Sie war erfüllt von grenzenloser Müdigkeit, doch das Adrenalin, das ständige Auf-der-Hut-Sein hielten sie in einem nervösen Wachzustand.

      Hannelore hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht, wie lange sie bereits unterwegs waren, noch, wie viele Stunden vor ihnen lagen, ehe sie ihr rettendes Ziel erreichten. Wie es danach weitergehen sollte, stand ohnehin in den Sternen.

      Um die aufkeimende Angst vor dem Ungewissen zu unterdrücken, zwang Hannelore sich, einen Schritt nach dem anderen zu unternehmen. Sie würde alles auf sich zukommen lassen, und erst dann würde sie sich über den nächsten Schritt Gedanken machen. So hatte sie es sich zumindest vorgenommen. Aber was waren Pläne in diesen Zeiten schon wert? Es ging nur noch darum, zu überleben und sich so gut es ging nicht verrückt machen zu lassen.

      Sie betrachtete all die Menschen um sich herum. Alte Großmütter, junge Frauen und deren Kinder. Die meisten Passagiere waren Frauen. Nur wenige Männer waren unter den Reisenden. Viele waren an der Front, viele vermisst oder gefallen.

      All die Soldaten, die ihr Leben riskieren mussten, wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, wohin ihre Frauen und Kinder flüchteten.

      Hannelore dachte erneut an Ernst, und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Und wenn er doch noch nach Hause zurückkehrte? Würde er nach ihnen suchen und sie finden?

      »Darf ich?«

      Hannelore schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie Gesellschaft bekommen hatte. Als sie aufsah, blieb ihr Blick an diesen tiefblauen, faszinierenden Augen hängen, die sie nicht zum ersten Mal aus dem Konzept brachten.

      Auch wenn die Strapazen selbst an ihr nicht spurlos vorbeizugehen schienen, war der Glanz in ihren Augen doch geblieben.

      Hannelore nickte und machte einen kleinen Schritt zur Seite, sodass die Frau sich neben sie stellen und sich ebenfalls an der Trennwand zwischen den Abteilen anlehnen konnte.

      Sie