Leise rieselt der Tod. Uli Aechtner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uli Aechtner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416760
Скачать книгу
viel unproblematischer? Sie suchte die Zutaten für den Stollen zusammen und griff auch noch zu weiteren Backzutaten, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Dann trug sie alles zur Kasse. Die alte Dame tippte die Preise so gemächlich ein, als kaufte Jenny für nächstes Jahr Weihnachten ein. Dann schob sie ihr eine mit einem bärtigen Weihnachtsmann bedruckte Tragetasche über den Tresen. »Macht eigentlich zwanzig Cent extra, aber da bald Weihnachten ist …«

      »Fein. Was ist das da draußen für ein wundervoller Kater?«

      »Ach, der Rote. Der will immer nur fressen.«

      »Das kann ich mir vorstellen.«

      Der alten Dame lag etwas anderes auf der Seele. »Eine junge Frau soll gestern die Leiche von Uta Möbius vor dem Landhaus des neuen Doktors gefunden haben, eine Fremde. Das waren Sie, nicht wahr?« Sie sah Jennifer mit wissendem Blick an und redete weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Das muss doch furchtbar für Sie gewesen sein. Früher hätte es hier so was nicht gegeben, aber die Zeiten haben sich geändert. Selbst unser Dorf ist unwirtlich geworden.«

      Jenny wusste nicht so recht, was sie darauf sagen sollte. Schweigend verstaute sie ihre Einkäufe in der papierenen Weihnachtsmanntüte. Im Hinausgehen rief ihr die Alte noch etwas nach: »Passen Sie nur gut auf sich auf!«

      ***

      In der Küche des Landhauses gönnte Jennifer sich vor dem spaltbreit geöffneten Fenster die erste Zigarette des Tages, penibel darauf achtend, den Rauch nach draußen auszustoßen. Dann türmte sie ihre Einkäufe auf dem Tisch auf und machte sich an das Christstollen-Projekt. Nach Toms Familienrezept rührte sie den Teig an, statt frischer Hefe nahm sie aber Trockenhefe, die funktionierte zuverlässiger. Im Dorfladen hatte es eh nichts anderes gegeben. Und statt einen Stollen zu formen, gab sie handliche Teigkugeln in der Größe von kleinen Schneebällen in die Muffinformen.

      Sie hatte gerade die ersten fertig gebackenen Muffins aus dem Ofen gezogen, als Tom den Weg in die Küche fand. Obwohl er ihn offen über dunkler Kleidung trug, ließ sein weißer Arztkittel das Rotblond seiner Haare intensiver wirken, und mit seinem Stethoskop um den Nacken nahm man ihm den Mediziner sofort ab.

      »Morgen, Jenny.«

      »Hey, was machst du denn hier? Ich denke, du bist unterwegs in ärztlicher Mission.«

      »War ich. Ich habe nach Bauer Lüders geschaut.«

      »Ist das der, der sich ins Bein gehackt hat?« Über die Tote vor Toms Haustür hatte sie völlig vergessen, ihn nach seinem Patienten zu fragen.

      »Ja. War Gott sei Dank nur eine Fleischwunde, wurde gestern im Krankenhaus geklammert. Heute habe ich den Verband gewechselt. Man muss sichergehen, dass sich nichts entzündet.«

      »Und jetzt?«

      »Jetzt wollte ich eigentlich in der Praxis weitermachen. Aber … Ach, Jenny, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

      »Ist der Andrang im Wartezimmer denn so groß?«, fragte sie unsicher.

      »Da wartet nicht einer«, meinte er düster, zog den Arztkittel aus und starrte dabei auf die Muffins, die sie auf dem Herd abgestellt hatte. »Sag mal, was gibt das denn? Ich denke, du backst Christstollen.«

      »Tu ich doch auch.«

      »Danach sieht es aber gar nicht aus.«

      »Ist aber euer Teig. Ich meine, der Teig ist nach eurem Rezept. Allergrößtenteils jedenfalls.«

      »Aber Jenny. Diese Dinger da haben nichts, rein gar nichts mit einem Christstollen zu tun.«

      »Nicht? Mal probieren?«

      »Ein Christstollen, sagt meine Mutter immer, versinnbildlicht das in Windeln eingeschlagene Christkind.«

      »Wie bitte?«

      »Der Stollen hat die Form eines Steckkissens, und der Puderzucker erinnert an weißes Tuch. Es mag ja komisch klingen«, räumte er ein, »aber es ist halt ein Symbol. Was du da gerade backst, sieht wenig symbolhaft aus. Was soll das darstellen?«

      Jennifer zog einen Flunsch, während sie darüber nachdachte.

      »Mützchen fürs heilige Kind?«, schlug sie mit Unschuldsmiene vor. »Willst du nicht doch mal probieren?«

      Tom schwieg und umfasste das Stethoskop, das um seinen Nacken lag, an beiden Enden mit seinen Händen. Es war, als müsste er sich irgendwo festhalten.

      »Nun nimm es nicht so tragisch«, meinte sie.

      Tom seufzte. »Das Anschneiden eines schönen Stollens ist für meinen Vater an Weihnachten ein Ritual, mit dem er die Feiertage einläutet. Wie soll er die Muffins feierlich anschneiden? Ich werde ihn bitten, sich dieses Jahr einen Stollen zu kaufen.«

      »Jetzt spinnst du aber«, fauchte Jenny. »Bau lieber mal die Reisebetten auf. Ich werde mich hier nicht so schnell langweilen. Hab schließlich noch drei Bleche Christkind-Mützchen vor mir.«

      Er lachte gequält. »Du bist so lieb und witzig, Jenny. Kannst du mir verzeihen, was ich gesagt habe? Das war echt blöd von mir.« Nun griff er doch noch nach einem Muffin. »Es ist im Moment alles sehr viel für mich. Der Umzug aufs Land, die erste eigene Praxis. Und nun kaum Patienten.« Er biss ab und kaute, bis seine Miene sich schließlich erhellte. »Danke, schmeckt tatsächlich sehr gut. Wenn auch anders als ein gut durchgezogener Stollen, irgendwie krustiger und nicht ganz so aromatisch. Wann backst du die Plätzchen?«

      Jennifer, die sich gerade wieder ihrer Arbeit zugewandt hatte, verdrehte die Augen. »Plätzchen auch noch? Tom, du bist schrecklich. Man könnte meinen, du seist ein verzogenes Einzelkind, dabei hast du eine Schwester.«

      »Eine ältere Schwester«, gab er zu bedenken.

      »Na klar, die hat dich mit deinen Eltern um die Wette verwöhnt. Ich will jetzt erst einmal unser Weihnachtsessen organisieren. Gibt es hier in der Nähe ein Lokal, das sich dafür eignet und am ersten Feiertag geöffnet hat?«

      Tom schluckte den letzten Bissen Christstollen-Muffin hinunter. »Wenn du einen richtig zünftigen Landgasthof suchst, bist du im ›Dorfkrug‹ richtig. Er liegt neben dem Supermarkt, ist unser einziges Restaurant weit und breit und so beliebt, dass sogar Gäste von auswärts sich dort wohlfühlen.«

      »Fein, das passt doch.«

      ***

      Da das Kolonialwarengeschäft, wie sie den Supermarkt inzwischen in Gedanken nannte, nicht weit entfernt lag und das Gasthaus daran angrenzte, ging Jenny zu Fuß. Von außen präsentierte sich der Dorfkrug als historisches Gebäude mit steinernem Untergeschoss und aufgesetztem Fachwerkstock, innen empfing den Besucher ein modernes Ambiente. Die Wände waren vom Putz befreit worden, luftig-helle Gardinen bildeten einen interessanten Kontrast zum groben Gemäuer. Unter der Decke hingen schlichte Leuchten, und der Tresen, vor dem eine Reihe viereckiger Hocker mit Ledersitzen stand, hätte einer New Yorker Bar alle Ehre gemacht. Mitten im Raum prangte ein Tannenbaum. Er reichte bis an die Decke, und seine bunten Lichter blinkten im Rhythmus der leise dahinklimpernden Kneipenmusik.

      Jenny ging auf die Frau hinter dem Tresen zu, die sie für die Wirtin hielt.

      »Was kann ich für Sie tun?«, wurde sie freundlich gefragt.

      »Ich möchte für den ersten Feiertag einen Tisch reservieren. Mittags, so gegen dreizehn Uhr. Für Dr. Kramer.«

      »Einen Moment, bitte.« Die Wirtin zog ihr Bestellbuch hervor, blätterte darin, und Jenny sah sich unauffällig um. Fünf runde Tische standen im Raum, weiße Tücher fielen großzügig über die Ränder. Gestärkte Stoffservietten in Form von Bischofsmützen reckten sich auf jedem Platz in die Höhe. Unmittelbar in der Nähe des Tresens entdeckte Jennifer einen langen Tisch, der nicht eingedeckt war. Sein blankes Holz glänzte wie frisch abgewischt.

      »Unser Stammtisch«, sagte die Wirtin, die ihrem Blick gefolgt war. Und wie aufs Stichwort kamen fünf Männer herein und ließen sich am Stammtisch nieder.

      »Gilla, wir wollen Mittag essen. Kannst