Leise rieselt der Tod. Uli Aechtner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uli Aechtner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416760
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hatte sich in einen Hustenanfall gerettet und röchelnd hervorgebracht: »Ja, magst du denn keine Sterne?«

      »Doch. Aber … Ach, Tom!«

      Sie fuhr auf die schmale Brücke, spürte, wie sie unter ihrem Wagen vibrierte. Dunkle Wassermassen wälzten sich unter der Fahrbahn hinweg und trieben Schlamm und Unrat flussabwärts. Sie zwang sich, nur nach vorne zu schauen und nicht zur Seite.

      Mit sechzehn war ihre Freundschaft mit Tom ins Gleichgewicht gekommen. Weil sie eine Ehrenrunde drehen musste, war Marie in ihre Klasse geraten, ein modeldürres Mädchen, das stets verträumt dreinschaute. Ihr nussbraunes Haar reichte ihr bis zur Hüfte, und weil sie wohl wusste, welche Anziehungskraft sie damit auf andere ausübte, hob sie die Wirkung noch hervor, indem sie nussbraune Kleidung trug. Tom hatte sein Zimmer mit ihren Fotos tapeziert. Er war bis über beide Ohren in sie verliebt gewesen, und da sie seine romantischen Gefühle auf sich zog, waren für Jennifer Kameradschaft und Nähe geblieben.

      Endlich, sie hatte das Ufer erreicht, die Brücke lag hinter ihr, und sie bog rechts ab. Eine Weile noch ging es an dem rauschenden Fluss entlang, dann führte die Straße vom Wasser weg. Noch ein Hügel, und eine grüne Weidelandschaft breitete sich vor ihr aus. Eine Herde Kühe sah ihrem dahinbrausenden roten Mini Cooper wiederkäuend hinterher. Sie zählte ein paar Bauernhöfe und erreichte schließlich Toms Dorf. Alte Häuser, enge Straßen. Ein Huhn, das gemächlich über das Kopfsteinpflaster stakste.

      »Sie haben Ihr Ziel erreicht!«, quäkte es aus dem Navi.

      Jenny hatte den Fuß längst vom Gas genommen, vor einem alten Herrenhaus kam der Wagen zum Stehen. Es war ein hellgraues Gebäude mit hohen weißen Sprossenfenstern. Wie in der Gegend üblich, lag bestimmt Fachwerk unter dem Putz. Der rötliche Sandstein des Sockels und der Fenstereinfassungen leuchtete mit den blutrot gestrichenen Fensterläden um die Wette. Der Größe nach musste das Haus gefühlt ein Dutzend Zimmer haben.

      »Meine Güte, was für ein Kasten!«, flüsterte sie. Dafür also hatte sie Tom den Kredit besorgt. »Respekt, mein Guter!«

      Ein Hauch von Ehrfurcht überkam sie. Wie viele Jahrhunderte mochte das Gebäude wohl schon hier stehen? Zwei, drei oder gar vier? Welcher Gutsherr hatte es einst erbaut, und wie viele Generationen hatten darin schon gelebt?

      Sie zog ihre Reisetasche aus dem Kofferraum. Ein tiefes Durchatmen noch, und sie trat auf den Eingang zu.

      Die Töne, die auf ihr Läuten hin hinter der schweren Holztür im Inneren des Hauses erklangen, ließen das Bild einer kleinen Kirchenglocke in ihr aufsteigen, die in einer weiten Halle unter einer hohen Decke hin und her schwang. Dann stand auch schon Tom vor ihr.

      »Hey, alles gut gefunden?«

      »Ging so. Diese winzige Brücke über den Fluss war beängstigend. Habt ihr keine größere, die weniger baufällig wirkt?«

      Ein Grinsen legte sich auf Toms Gesicht. »Nein. Jeder, der zu uns will, muss über dieses Brücklein. Sollte es mal einstürzen, wird geschwommen. Das ist die Mutprobe, um in unser Dorf zu kommen.«

      »Verstehe. Und den Kredit hab ich dir tatsächlich für dieses Anwesen verschafft?« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf die Hausfront. Auf den Fotos, die dem Kreditantrag beigelegt waren, hatte es viel bescheidener gewirkt.

      »Hast du. Sehr praktisch, dass du bei einer großen Bank arbeitest.«

      »Finde ich manchmal auch.«

      Tom hatte nicht viel auf der hohen Kante gehabt, und Jenny hatte ein paar Anläufe gebraucht, um ihrem Chef den Kredit für sein Landhaus abzuringen. Zum Glück waren ihr Toms Eltern eingefallen, und sie hatte ihm gut zugeredet, sie mit ins Boot zu nehmen. Danach war alles einfacher gewesen.

      »Nun komm doch erst mal rein«, sagte Tom und zog die Tür weit auf. »Die Küche liegt gleich hier unten im Parterre und ist schon benutzbar. Und natürlich ist die Praxis fertig eingerichtet. Willst du sie sehen?«

      »Na klar!« Die Praxis war schließlich der Grund, weshalb Tom dieses Haus erworben hatte. Er war hier heraus aufs Dorf gezogen, um ein Landarzt zu werden.

      »Ich suche gerade eine Arzthelferin«, redete er weiter, »aber das ist nicht so einfach. Die meisten Mädels wollen lieber in der Stadt arbeiten. Magst du nicht umschulen?«

      »Aber, Herr Doktor! Ich kann doch kein Blut sehen.«

      »Ach, sei ehrlich, du hängst nur am Geld.«

      Sie lachten.

      Er ging voraus und durchquerte mit ihr im Schlepptau die Eingangshalle. Seine Absätze schlugen einen gemächlichen Takt auf dem Fliesenboden. Er öffnete verschiedene Türen.

      »Die Wohnküche befindet sich hier rechts im Parterre, früher wurde sie allein vom Personal benutzt. Die Herrschaften hielten sich von Küchengerüchen gern fern. Daneben gibt es einen Wirtschaftsraum und eine Tür weiter dein Gästezimmer. Und hier im linken Trakt haben wir die Praxisräume.«

      »Mit einem behindertengerechten zweiten Eingang an der Seite des Hauses.« Jennifer sah die Architektenpläne vor sich.

      »Richtig. Aber du kannst dich auch von der Halle aus reinschleichen.« Er öffnete die Tür, an deren Innenseite die Aufschrift PRIVAT den Durchgang untersagte, und ließ sie in ein Empfangsbüro, ein Wartezimmer und einen Behandlungsraum schauen. »Da fehlt noch das Ultraschallgerät, das kann ich erst nächstes Jahr anschaffen. Ist leider sehr teuer.«

      »Brauchst du noch einen Kredit?«, neckte Jenny. Ihr Blick glitt über sein blasses Gesicht, in dem sie die Sommersprossen hätte zählen können, so nah, wie er jetzt bei ihr stand, und blieb an seinen hellen Iris hängen.

      »Nein, nein. Alles gut.« Er konnte mit den Augen lachen. »Ich stehe bereits tief genug in deiner Schuld. Ohne dich wäre ich nicht so schnell zu einer Landarztpraxis gekommen, und schon gar nicht zu diesem grandiosen Landhaus.«

      »Vergiss deine Eltern nicht«, erinnerte ihn Jenny. »Wenn sie nicht für dich gebürgt hätten …«

      »Schon klar. Zu meinen Eltern kommen wir später noch.« Auf seiner Stirn bildeten sich ein paar Sorgenfalten. »Ich zeige dir erst einmal den Rest des Hauses. Darf ich dir dein Gepäck abnehmen?«

      »Danke, nett von dir.« Sie schälte sich aus ihrem Parka und überließ ihm ihre Reisetasche, in der sich alles befand, was sie für die Weihnachtstage brauchen würde: Jogginganzug, Lauf- und Wanderschuhe, dicke Socken, Schlabberpulli, Kuschelpyjama.

      Es würde das erholsamste Weihnachtsfest aller Zeiten werden.

      Tom trug ihre Tasche in das Gästezimmer, an das ein kleines Bad angrenzte.

      »War früher das Dienstmädchenzimmer«, erklärte er. »Der Vorbesitzer hat für das Duschbad vom Wirtschaftsraum nebenan etwas Platz abgetrennt und sogar eine Terrassentür eingebaut. So kommst du von hier aus direkt an die frische Luft. Schau.« Er hob die Gardine an, sodass sie in den parkähnlichen Garten sehen konnte. »Sollte wohl ein Zimmer für seine Tochter werden, aber mit der hatte er sich verkracht, noch bevor alles fertig war. So erzählt man sich jedenfalls im Dorf.«

      Jenny sah sich zufrieden um. »Es ist wirklich wunderschön. Ich bin froh, dass ich deine Einladung angenommen habe, ich hätte ja echt was versäumt.«

      »Na, dann pass mal auf, die Besichtigung ist noch nicht beendet!« Er führte sie durch ein Treppenhaus, das nahezu ein Viertel des Gebäudes einzunehmen schien, und sie gelangten in einen Raum, zu dem ihr spontan nur das Wort »Salon« einfiel. Eingerichtet war hier noch nichts, lediglich ein Sekretär mit einem Stuhl davor zierte die Wand, und ein Sofa verlor sich mitten im Raum. Dennoch konnte man sich bereits vorstellen, wie beeindruckend es einmal aussehen würde.

      Jennifer trat vor eins der hohen Fenster mit den weiß gestrichenen Sprossengittern. Sie gaben den Blick auf die Landschaft frei, die sich grün und weit vor der Terrasse ausbreitete. Der Fluss, den sie bei ihrer Herfahrt über die kleine, baufällig wirkende Brücke überquert hatte, glitzerte in einiger Entfernung, und der Horizont schien endlos weit weg zu sein.

      »Ich