Leise rieselt der Tod. Uli Aechtner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uli Aechtner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416760
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ihr seinen Ausweis hin. »Sie haben die Notrufzentrale alarmiert?«

      Sie nickte, und Waldner bückte sich zu der Toten hinab. Wie Jennifer vorhin zog auch er kurz an dem künstlichen Bart und zuckte zusammen, als das Gummiband ihn wieder zurückschnalzen ließ.

      Aus dem Krankenwagen war ein zweiter Mann herbeigeeilt, der sich die tote Frau ebenfalls ansah.

      »Wir brauchen hier einen Leichenwagen«, stellte er fest. An Jennifer gewandt ergänzte er: »Im Krankenwagen dürfen wir keine Toten befördern.«

      Waldner stimmte ihm zu, dann galt sein Interesse Jennifer.

      »Haben Sie die Leiche berührt?«

      »Ich bin auf sie draufgefallen.«

      »Und dabei haben Sie sie angefasst?«

      »Nur ihren Mantel und ihre Maske.«

      »Kennen Sie die Frau?«

      »Nein, nie gesehen.«

      »Wann genau haben Sie die Tote entdeckt?«

      »Als ich vom Joggen zurückkam.«

      »Joggen? Hat Sie jemand dabei gesehen?«

      Ihr war kalt, und sie schlang die Arme um sich, doch das schien der Kommissar nicht zu bemerken. Weitere Fragen prasselten auf sie ein. Wer bewohnte das Haus? In welchem Verhältnis stand sie zu dem Besitzer?

      Während sie artig Auskunft gab, wurde ihr immer beklommener zumute. Der Mann schien nicht zu glauben, dass die Weihnachtsfrau eines natürlichen Todes gestorben war. Verdächtigte dieser Kommissar etwa … sie?

      »Könnten Sie sich bitte etwas anderes anziehen und uns Ihre Kleidung überlassen?«, fragte er prompt. »Die Kriminaltechniker werden sie nach Fasern und anderen Spuren untersuchen. Keine Angst, ist reine Routine.«

      Jennifer erhielt die Erlaubnis, ins Haus zu gehen, um sich umzuziehen, und umrundete respektvoll die Tote. In ihrem Gästezimmer entledigte sie sich ihrer Sportklamotten und stieg rasch unter die Dusche. Es tat gut, das warme Wasser über den Körper und ins Gesicht prasseln zu lassen, und ihr kam der beklemmende Gedanke, dass die Frau da draußen vor der Haustür auch liebend gern lebendig unter einer heißen Dusche stehen würde.

      Das Leben war nicht gerecht.

      Als sie warm angezogen wieder vor die Tür trat und dem Kommissar ihre Joggingklamotten in einer Einkaufstüte überreichte, befand sich keine Tote mehr vor dem Hauseingang. Stattdessen lag auf einer rollbaren Trage nahe dem Gartentor ein schwarzer Sack, unter dem sich die Konturen eines menschlichen Körpers abzeichneten. Der Krankenwagen war abgerückt, doch Waldner hatte nun drei Mann zur Verstärkung bei sich. In weißen Overalls gossen sie weiße Masse in Fußabdrücke seitlich des Wegs, der zur Haustür führte, und fast überall stellten sie kleine Tafeln mit Nummern auf. Scheinwerfer tauchten den Vorgarten in gleißendes Flutlicht.

      »Jesses, was ist denn hier passiert?« Toms Stimme drohte sich zu überschlagen, als er von seinem Patienten zurückkam und sein Haus betreten wollte. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Man könnte annehmen, hier wird eine ›Tatort‹-Folge gedreht.«

      »Eine Tote lag vor deinem Haus, als ich vom Joggen kam«, sagte Jennifer. »Sie war als Weihnachtsmann verkleidet.«

      »Urs Waldner, Kriminalpolizei.« Der Kommissar war auf Tom zugetreten und hielt nun auch ihm seinen Ausweis hin. »Und Sie sind?«

      »Tom Kramer, Allgemeinmediziner. Ich wohne hier.«

      »Ah, sieh an, der Hausherr.«

      »Darf ich einen Blick auf die Tote werfen?« Die Frage hatte Tom passgenau an den Mann gerichtet, den Jennifer für den Rechtsmediziner hielt. Wahrscheinlich konnten sich Ärzte untereinander wittern.

      Der andere sah ihn gleichmütig an. »Die Leiche liegt schon im Sack, Herr Kollege, aber für Sie ziehen wir den Reißverschluss gern noch mal auf.«

      Langsam gingen die beiden zu der Trage hinüber, und Jennifer folgte ihnen in pietätvollem Abstand. Sie hatte die Tote lange genug vor sich liegen sehen, ihr war nicht danach, sie erneut zu betrachten. Aber sie wollte mitkriegen, was los war.

      Der Leichensack wurde wie versprochen geöffnet, und Tom beugte sich über den Leichnam. Ohne ein Wort zu verlieren, studierte er das Gesicht der toten Frau. Der Rechtsmediziner wedelte mit der Hand vor Mund und Nase der Toten hin und her und sog dabei die Luft ein. »Und? Riechen Sie es auch?«

      »Ich rieche gar nichts.« Tom starrte stur auf die Leiche.

      Der Rechtsmediziner wiegte den Kopf. »Wer weiß, vielleicht gehören Sie ja zu den zehn Prozent, die den Geruch gar nicht wahrnehmen können.«

      »Worum geht es denn?« Widerstrebend trat Jennifer näher an den Leichnam heran. In dem schwarzen Sack war er ihr noch unheimlicher als vorhin vor dem Hauseingang.

      »Der Duft von Bittermandelöl«, sagte der Rechtsmediziner. »Er weist auf die Einnahme von Zyankali hin. Im Magen verwandelt es sich zu tödlicher Blausäure.«

      Jennifer fasste unwillkürlich nach Toms Arm. »Heißt das, die Frau wurde vergiftet?«

      Der Rechtsmediziner nickte. »Schon möglich. Nach der Obduktion wissen wir Genaueres.«

      »Ganz bestimmt.« Nun war auch Waldner wieder zu ihnen getreten. »Können Sie sich vorstellen, was die Frau von Ihnen wollte, Herr Dr. Kramer?«

      Tom schien darüber nachzudenken. »Wenn tatsächlich Cyanide im Spiel waren, muss sie unter schmerzhaften Krämpfen gelitten haben«, sagte er schließlich. »Womöglich hat sie mich deshalb aufsuchen wollen.«

      Jenny wies auf den Stapel Werbeblättchen, der auf den Stufen zur Haustür abgelegt worden war. »Wollte sie in ihrem Kostüm nicht vielmehr Zeitungen verteilen?«

      »Das auch.« Tom warf seinerseits einen Blick auf den Zeitungsstapel und nickte. »Das machte sie schon den ganzen Advent im Weihnachtsmannkostüm. Und statt das Blättchen wie sonst in den Briefkasten zu werfen, schellte sie an der Haustür und wünschte den Bewohnern eine gesegnete Weihnachtszeit.«

      »Sie kennen diese Frau?«, stieß Waldner hervor.

      »Wie nett von ihr«, murmelte Jenny.

      Tom schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Von ihrem Auftritt als Weihnachtsmann erhoffte sie sich ein Trinkgeld. Ein ›Neujährchen‹ eben. Im Dorf erzählten einige, dass sie ihnen gegenüber grantig geworden sei, weil sie ihr angeblich nicht genug gegeben hätten.«

      »Und weiter?« Waldner verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen. »Kennen Sie den Namen der Frau? Hat sie Sie schon einmal in Ihrer Praxis aufgesucht? War sie Ihre Patientin?«

      »Nun mal langsam.« Tom hob abwehrend eine Hand, seine Arzttasche in der anderen verhinderte, dass er diese ebenfalls hochhielt. »Die Frau hieß Uta Möbius, sie wohnte bei Sandra Kaspar im Seelenhof, das ist im ganzen Dorf bekannt. Mehr darf ich Ihnen aufgrund meiner ärztlichen Schweigepflicht leider nicht über sie mitteilen.«

      Einen Moment lang sagte keiner etwas. Toms Miene war unergründlich, und falls Waldner über die Antwort enttäuscht war, ließ er es sich nicht anmerken. Er stellte den Kragen seiner Jacke hoch, vergrub seine Hände in den Taschen und betrachtete das Schild am Haus, auf dem neben einem Äskulapstab mit gewundener Schlange und einem Hinweis auf den Praxiseingang Toms Name stand. »Ich komme noch mal auf Sie zu, Dr. Kramer«, meinte er schließlich. »Sie hören von mir.«

      Jetzt klang es wie eine Drohung.

      ***

      »Uta Möbius war deine Patientin, nicht wahr?« Als sie endlich mit Tom allein war, wollte Jennifer es genau wissen. »Du unterliegst auch mir gegenüber der ärztlichen Schweigepflicht, das weiß ich, aber du könntest ja vielleicht mal ein Nicken andeuten.«

      Er lachte amüsiert auf. »Das stellst du dir so vor.«

      Sie hatten es sich im nahezu möbelleeren Salon mit einem Primitivo aus seinem Weinkeller bequem