Leise rieselt der Tod. Uli Aechtner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uli Aechtner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416760
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und Skalpell auf einem Spannbrett zurechtgelegt hatte, und ganz flüchtig dachte sie nun, dass er bestimmt auch ein guter Chirurg geworden wäre.

      Mit dem ausgestreckten Zeigefinger fuhr sie über einen der kleinen Schaukästen, dann über die gemaserte Holzoberfläche des Sekretärs. Kulis und Bleistifte lagen auf der aufgeklappten Schreibunterlage, daneben ein leeres Blatt Papier. Ein Foto, aufgestellt in einem Alurahmen. Sie nahm es an sich und betrachtete es. Eine schlanke Frau mit schulterlangem grauen Haar war darauf zu sehen, Toms Mutter. Eine jüngere und etwas größere Version der Frau, Anne, stand mit ernstem Blick daneben. Der Mann hinter ihnen überragte die Frauen um einen Kopf. Toms Vater trug sein Haar so kurz wie Tom, nur war es nicht rotblond, sondern schlohweiß. Im Vordergrund machten Annes Kinder Faxen, verzogen die Münder. Das Mädchen hatte zwei Finger zum Victory-Zeichen erhoben, und der Junge, der so viele Sommersprossen hatte wie die Milchstraße Sterne, streckte dem Betrachter die Zunge raus.

      »Ihr seid mir ja eine lustige Bande«, murmelte Jenny.

      Sie kannte Toms Familie, nur hatten die Jahre alle verändert. Die Kinder waren älter und größer geworden, seit sie sie zuletzt gesehen hatte. Und Anne, Toms ältere Schwester, war nun eine reife Frau. Früher war sie eine echte Nervensäge gewesen. Jüngere hatte sie ständig herumkommandiert, und Jenny war ihr auf dem Schulhof nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Es berührte sie, die Ähnlichkeit zwischen Toms Vater und Tom in diesem Foto festgehalten zu sehen, und in seinem Neffen erkannte sie Tom als Kind.

      Sachte stellte sie das Foto zurück.

      Und nun rasch raus an die frische Luft!

      Kapitel 3

      Um sich nicht zu verlaufen, schlug Jennifer einen Bogen um das Dorf, den Kirchturm immer fest im Blick. Über die weite Landschaft legte sich langsam die Dämmerung. Die Luft war abendlich kühl, bald brannten ihre Lungen. Ein Pony stand am Zaun einer Weide, beäugte sie und schüttelte Feuchtigkeit aus seiner Mähne. Jenny war, als wollte das Tier ihren Laufstil tadeln. Bemüht, alle Gedanken auszuschalten, konzentrierte sie sich auf den Rhythmus ihrer Schritte, lauschte dem Pochen auf dem weichen Grund der Feldwege. Sie spürte, dass sie diesmal nicht richtig warm werden würde. Die Temperaturen hier draußen auf dem Land hatte sie unterschätzt und sich nicht warm genug angezogen. Als Toms Gutshaus im Zwielicht wieder in Sicht kam, atmete sie erleichtert auf.

      Gib Gas, Jenny, ermutigte sie sich selbst, nur noch ein paar Meter!

      Das eiserne Gartentor fiel quietschend hinter ihr ins Schloss. Sie wollte rasch ins Warme, doch der Haustürschlüssel hatte sich im Futter ihrer Jogginghose verhakt und ließ sich nur widerstrebend lösen. Ihre Finger waren einfach zu klamm. Sie nahm die Handflächen vor den Mund und hauchte ihren heißen Atem hinein, während sie weiter auf Toms Haustür zustrebte.

      Zu spät bemerkte sie, dass ihr etwas im Weg war. Im Halbdunkeln stolperte sie darüber und fiel auf einen Berg Stoff, der die Stufen zum Haus versperrte. Nun lag der Stoffberg unter ihr, vorsichtig tastete sie danach.

      Samt, es fühlte sich wie Samt an. Aber darunter war noch etwas anderes. Massig und fest.

      Oh Gott, was war das?

      Sie hob den Kopf, versuchte etwas zu erkennen und blinzelte doch nur hilflos. Toms Außenleuchte war eine verdammte Funzel, und ihre Augen tränten erbärmlich. Etwas Faseriges war hineingeraten. Sie nahm nur Farben wahr: Rot. Feuerrot. Blutrot. Und ein bisschen Weiß.

      Sie wollte aufstehen, suchte nach Halt und erschrak. Das, worauf sie sich abstützte, fühlte sich wie Fleisch an. Warmes Fleisch, bedeckt mit rotem Samt.

      Da, da! Aus dem roten Stoff ragte eine blasse, schlaffe Hand heraus. Sie schrie. Wollte schreien. Schrie nicht, weil ihre Kehle vor Angst wie zugeschnürt war.

      Holy shit, das, worauf sie lag, war ein Mensch. Immer noch konnte sie kaum etwas sehen. Die Erhebung dort drüben musste der Kopf sein. Sie griff danach, und ihre zitternden Hände fanden ein Gesicht. Warum nur war es so kalt und glatt? An der Stelle, wo sie den Mund vermutete, fasste sie in ein Loch. Wo die Augen hätten sein sollen, waren zwei weitere Löcher.

      Nein, nein, brüllte es in ihrem Hirn.

      Sie rollte sich von dem Monster herunter, schaffte es mit letzter Kraft, sich aufzurichten. Schwer atmend starrte sie auf die undeutlichen Umrisse des Körpers.

      Scheiße, sei kein Feigling!, ermahnte sie sich.

      Entschlossen ergriff sie den samtenen Stoff und zog ihn glatt. Es war ein weiter, langer Mantel, weiß umsäumt, mit einer ausladenden Kapuze daran.

      Ein Lachen quälte sich ihre Kehle hoch, rau und verzweifelt. Der Weihnachtsmann! Jemand in einem Santa-Claus-Kostüm lag auf den Stufen zu Toms Landhaus. Doch schien er nicht mehr zu leben, so still, wie er dalag.

      Oh Gott, oh Gott.

      Sie presste ihre zitternden Hände zusammen. Atmete tief durch. Dann bückte sie sich und sah sich den Toten näher an. Er trug eine Santa-Claus-Maske aus Plastik mit rosig aufgemalten Wangen. Dieses Ding hatte sich so glatt und fremd angefühlt. Fasern des künstlichen weißen Bartes waren ihr in die Augen geraten. Vorsichtig zog sie an dem Bart. Als sie ihn losließ, schnalzte er ohne Vorwarnung zurück.

      Gummiband!

      Die Absurdität der Situation weckte ihr erstarrtes Hirn wieder auf. Beinah musste Jennifer lachen. Vorsichtig nahm sie dem Weihnachtsmann die Maske ab, jedoch nur, um erneut zu erschrecken. Die Plastikmaske hatte das Gesicht einer Frau verborgen. Nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt. Ihre Haut musste viel Sonne gesehen haben. Eine Abenteurerin also. Den Kopf mit starrem Blick zur Seite gewandt, lag sie zusammengekrümmt auf dem Bauch.

      Was, wenn sie doch noch lebte? Musste sie nicht Hilfe rufen?

      Los, mach was, hämmerte es in Jennifers Kopf.

      Langsam streckte sie ihre Hand aus und legte sie der Leiche auf die Stirn. Sie hatte erwartet, einen erkalteten Körper zu spüren, doch er war noch so warm wie der eines lebendigen Menschen. Sie hielt ihre Finger vor den Mund der Toten, fühlte aber keinen Atem. Unter dem weißen Zottelbart wagte sie sich bis zur Halsschlagader vor. Kein Puls. Nichts mehr.

      Die Weihnachtsfrau war tot.

      ***

      Kalter Schweiß umhüllte Jennifers Körper wie ein feiner Film. Sie fror erbärmlich, schlang die Arme um sich und trat von einem Bein aufs andere. Ins Warme hatte sie gewollt, raus aus ihren Sportklamotten. Heißes Duschwasser hatte sie auf der Haut spüren wollen. Doch jetzt versperrte ihr eine Leiche den Weg ins Haus. Sie hatte mit der Polizei telefoniert und wartete nun auf die Beamten.

      Die Außenleuchte, die an der Eingangstür brannte, warf ihr spärliches Licht auf die Tote. Jennifer hatte nicht gewagt, sie zu bewegen, und so sah sie ihr Gesicht nach wie vor nur im Profil. Trotz ihres abwesenden und starren Blicks wirkte ihr Gesichtsausdruck friedlich. Aber das war bei den meisten Verstorbenen der Fall, zumindest hatte sie das mal im Weblog eines Bestatters gelesen. Wenn sich die Muskeln im Tod entspannten, entstand der Eindruck, sie seien ruhig eingeschlafen. Die verkrampfte Körperhaltung der Toten sprach für etwas anderes. Diese Frau hatte sich im Sterben zusammengekrümmt, vermutlich vor Schmerz.

      Wer war sie?

      Auf der Treppe zum Hauseingang entdeckte Jennifer einen Stapel Werbeblättchen. Der Wind spielte mit der Zeitung, die zuoberst lag, und ließ einen Zipfel aufflattern. Hatte die Verstorbene Zeitungen verteilt? Oder hatte sie Tom aufsuchen wollen, weil sie ärztliche Hilfe brauchte, und es nicht mal mehr bis zum Praxiseingang um die Ecke geschafft?

      Jennifer hatte keine Antwort auf diese Fragen.

      Motorengeräusch zerschnitt die Stille. Lautlos und rhythmisch strich Blaulicht über die Hausfront. Ein Krankenwagen und ein Polizeifahrzeug hielten zeitgleich vor dem Landhaus. Ein Mann in einer Outdoorjacke stieg aus dem Dienstwagen und kam zielstrebig auf Jennifer zu. Mitte vierzig, Naturbursche, nicht unattraktiv, registrierte sie trotz der unwirklichen Situation.

      »Kriminalhauptkommissar Waldner«, stellte er sich vor. Seine Stimme klang tief und angenehm