Dazu fiel mir erst mal nichts ein. Sie sagte: »Lust auf einen Kaffee?«
»Immer.«
Wir umfuhren Midtown und krochen dann durch die Einbahnstraßen des Old Quarter mit seinen engen Gassen und dreistöckigen Gebäuden. Knallbunte Ladenfronten im Erdgeschoss, abblätternde Farbe und bröckelnder Verputz weiter oben.
»Ist der Verkehr hier immer so schlimm?«, fragte sie.
»Weihnachten steht vor der Tür, die Schäfchen vom Lande lassen sich das Fell über die Ohren ziehen. Und wir Anderen sind bloß hier, weil wir uns nicht vorstellen können, dass die übrige Welt nur ein Fernsehkanal ist. Und was haben Sie für eine Entschuldigung?«
»Ich bin freie Journalistin und schreibe einen Artikel über Imelda Sheridan für Woman Now!. In Farbe, auf Hochglanzpapier, sie sollte als erfolgreichste Wohltätigkeits-Spendensammlerin in die Februarausgabe. Das Interview hab ich gestern geführt, hab das Haus fotografiert und sie selbst in ihren schicksten Klamotten, wie sie über den See blickt, das ganze Programm.« Sie seufzte. »Und jetzt sowas.«
»Das ist erst heute Morgen passiert. Wieso sind Sie immer noch hier?«
Sie fuhr ein Stück weiter und nahm den Gang raus. Fummelte am Heizungsknopf herum, während die Fenster beschlugen.
»Das hier ist eine hübsche Stadt«, sagte sie. »Und Weihnachten steht vor der Tür. Ich dachte, ich bleib eine Weile, um etwas Lokalkolorit mitzunehmen.«
»Versuchen Sie es mit Grau, davon haben wir fünfzig Schattierungen.«
Wir bogen um die Ecke und sahen den Grund für den Stau. Er war klein und untersetzt, ging auf die siebzig zu, und auf seinen weißen Locken saß ein Lederhelm aus dem Ersten Weltkrieg mit passender Schutzbrille. Sein Gesicht war rund und knallrot. Er stand mitten auf der Straße, fuchtelte mit den Armen und gab widersprüchliche Anweisungen, jedes Mal, wenn er sich umdrehte. Sein zerschlissener Mantel blähte sich im Wind.
»Über den sollten Sie einen Artikel schreiben. Er ist lokal und ziemlich koloriert.«
»Er passt nicht zu unseren Meinungsforschern, behauptet jedenfalls die Zielgruppe. Aber das ändert sich eh jede Woche. Wer ist das denn?«
»Der Dorftrottel, Baluba Joe. Es heißt, er sei noch nie in seinem Leben nüchtern gewesen. Wenn es ihn packt, muss er unbedingt den Verkehr regeln, und wenn dann alles im Chaos versinkt, kriegt er Entzugserscheinungen. Aber er ist völlig harmlos.«
»Unsere Leserinnen wären bestimmt fasziniert.«
Sie klang ziemlich blasiert. Im Auto war es zu warm. Ich brauchte dringend eine Zigarette, Kaffee und frische Luft, in dieser Reihenfolge.
»Er war mal Soldat.« Sie bemerkte den scharfen Ton in meiner Stimme und schaute mich zum ersten Mal an, seit ich in den Wagen gestiegen war. »Er ist verrückt, wirklich geisteskrank. Das merkt man, wenn man ihn ansieht. Aber falls Sie es nicht gleich merken, erklärt er es Ihnen selbst. Er irrte drei Tage lang im Kongo durch den Dschungel, nachdem sein Zug in einen Hinterhalt der Balubas geraten und ausgelöscht worden war. Der Dschungel ist sowieso kein angenehmer Ort, erklärt er gern. Aber wenn man achtzehn Jahre alt ist und mit angesehen hat, wie seine Kumpels mit Macheten abgeschlachtet wurden und ihr Blut immer noch am eigenen Körper klebt, dann ist das Gekreische im nächtlichen Dschungel das Fegefeuer.«
Wir fuhren langsam an Joe vorbei. Schaum stand vor seinem Mund. Autos hupten, Motoren heulten auf. Er sah aus wie ein Besessener.
»Warten Sie mal«, sagte sie, »ich habe doch nicht …«
»Das war in den Sechzigern. Also hat er seit vierzig Jahren alles getrunken, was ihn nicht sofort umbringt, und es interessiert ihn einen Scheiß, ob er es überlebt oder nicht. Eines Abends hat er mir erklärt, er wüsste schon, dass alle ihn bemitleiden. Und fragte mich, warum eigentlich.«
Sie parkte problemlos ein und machte den Motor aus.
»Harry …«
»Vor ein paar Jahren haben sie ihm eine Medaille verliehen, aber er gab sie dem Offizier zurück, als der nicht wagte, ihm ins Gesicht zu sehen. Das hat der Sache den Glanz genommen, meinte er. Ich sagte ihm, er hätte die Medaille nehmen sollen, damit der Offizier so richtig angepisst ist. Wissen Sie, was er dazu meinte? ›Noch nie ist ein Offizier wegen so einer Kleinigkeit angepisst gewesen.‹«
Sie starrte nach vorn mit versteinerter Miene. Ich sagte: »Ich hätte es nie bis zum Offizier geschafft. Sie müssen mich nicht bemitleiden.«
Sie schaute mich fragend an.
»War das jetzt eine Entschuldigung?«
»Frauen entschuldigen sich. Männer geben eine Erklärung ab.«
»Aber wir sind jetzt damit durch?«
»Ja. Und wer darf die Barry-White-CDs behalten?«
Der Coffee Shop Early ‘Til Latte wurde von einem schwulen Hippiepärchen betrieben, das mehr Gras verkaufte als Kaffee. Wir gingen durch den kurzen Flur in ein kleines Hinterzimmer, wo Regale mit antiquarischen Büchern standen. Plakate warben für Feng-Shui-Kurse, Feiseanna-Wettbewerbe und Flohmärkte. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Tür auf einen alten Barhocker und schlug die Beine übereinander. Ich quetschte mich hinter den hohen, wackligen Tisch, so, dass ich ihre Beine bewundern konnte. Wir schauten einander erwartungsvoll an, aber mir war schon klar, dass ich der Einzige war, der die Aussicht genoss.
»Was hätten Sie denn gern?«, fragte ich.
»Tony Sheridan.«
»Mit Sahne?«
Ich bestellte zwei Cappuccinos, die viel zu schnell gebracht wurden, und schnorrte zwei Blättchen von Andrea, der Kellnerin. Katie nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Ich tat drei Stück Zucker in die Tasse, wünschte mir was, rührte um und fragte, ohne sie dabei anzusehen: »Wie kommen Sie denn darauf, dass ich Ihnen Tony Sheridan liefern könnte?«
»Detective …« Sie holte ein kleines schwarzes Notizbuch aus ihrer Umhängetasche und schlug es auf. »Brady?«
»So ein Riese?«
»Genau der.«
»Der hat sich über Sie lustig gemacht. Und davon abgesehen – wie könnte ich das wohl schaffen?«
Sie schob den Kaffee beiseite, zündete sich eine Silk Cut an, blies den Rauch aus und schlug wieder die Beine übereinander.
»Fangen wir noch mal von vorn an, Harry.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich lieber weiter mit Ihren Beinen beschäftigen.«
Sie lächelte dünn.
»Tut mir leid, aber Sie sind nicht mein Typ.«
»Typen ergeben sich aus vorangegangenen Irrtümern. Sie sollten mehr an Ihre Zukunft denken.«
»Also echt jetzt, Harry …«
»Schon gut. Meine Güte, jetzt seien Sie doch nicht gleich eingeschnappt. Wenn ich ein Dekolleté hätte, würden Sie in Ohnmacht fallen. Jeder so, wie er kann.«
»Genau meine Einstellung.«
»Und Sie wollen sich mit Tony Sheridan beschäftigen.«
»Richtig.«
Ich ließ das erst mal so stehen und drehte mir eine Fluppe. Jetzt war sie dran. Sie zog einen braunen Umschlag aus der Tasche, blätterte einige Zeitungsausschnitte durch und reichte mir einen davon. Die Überschrift war ziemlich mäßig: »Umstrittenes Bauprojekt offiziell eröffnet«. Auf dem dazugehörigen Foto waren vor allem Männer in Sonntagsstaat zu sehen, die ihr Sonntagslächeln aufgesetzt hatten und auf dem Vorplatz eines Hotels standen. Der Typ mit der Schere in der Hand war groß, hatte sich gut gehalten und war wohl Tony Sheridan. Der Rest waren die üblichen Investoren, Stadträte