Codename Brooklyn.. Peter Pirker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Pirker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783702237578
Скачать книгу

      Da hatte Hans Wijnberg in den USA schon lange eine neue Heimat gefunden. Angekommen mit der SS Statendam am 25. Mai 1939 in den Docks von Hoboken, New Jersey, waren Bruder Loek und er so wie hunderttausende Migranten vor ihnen zuerst in Brooklyn gelandet. Und hatten wie so viele vor ihnen Aufnahme bei Menschen gefunden, die bereits zuvor als Immigranten angekommen waren. 3600 Dollar hatte Vater Leonard auf einem Bankdepot in New York hinterlegt, die er letztlich nur durch eine Hypothek auf das Haus der Familie aufbringen konnte – der Betrag entsprach in etwa seinem Jahreseinkommen. In Brooklyn gewann er zudem einen Bekannten, Joseph Ritmeester, dafür, die Buben bei sich aufzunehmen. Mit dem Bankdepot konnte Ritmeester gegenüber den US-Einwanderungsbehörden den Unterhalt der Zwillinge garantieren, was eine Voraussetzung für die Erteilung der Visa war.

      Joseph Ritmeester war 1896 als Dreijähriger mit seinen Eltern nach New York gekommen, hatte das Handwerk eines Diamantenschleifers erlernt, der einzigen Profession, in der die Juden in den Niederlanden den Ton angaben, nachdem sie über Jahrhunderte eine ihrer wenigen Erwerbsmöglichkeiten gewesen war. Er hatte zunächst in einer Fabrik gearbeitet und war nun bei einem Juwelier angestellt, während seine 42-jährige Frau Charlotte den Haushalt in der 70. Straße in Bay Ridge führte. Sie war als Kind polnischer Eltern, die aus Deutschland immigriert waren, bereits in New York geboren. Wie Joseph hatte sie nicht mehr als acht Jahre Elementarschule absolviert, beide waren seit mehr als zwanzig Jahren kinderlos verheiratet.

      Bay Ridge im südwestlichen Teil Brooklyns lag am Ende einer endlosen Strecke von Docks und Kais mit einem zum Teil maroden Hinterland aus Lagerhallen, Speichern, Kohlen- und Steinhalden, Zuckerfabriken, Brauereien und Schiffsausrüstern. Es war ein ursprünglich von holländischen Siedlern gegründetes Dorf, Anfang des 20. Jahrhunderts ein beliebter Sommeraufenthaltsort reicher Industrieller und Bankiers und nun ein Stadtteil der weißen Mittelklasse, ähnlich, aber wohl etwas weniger gepflegt als Overveen. Von den 120.000 Einwohnern war ein Viertel noch in Europa geboren, vorwiegend in Skandinavien. In den Straßen rund um die 70. lebten hauptsächlich italienische Einwanderer.53

      Sobald Hans und Loek den Schulabschluss in der Tasche hatten – inzwischen waren sie mit den Ritmeesters schon zweimal umgezogen, zuletzt in die 83. Straße –, machten sie sich selbstständig. Loek wurde wenige Wochen nach Schulschluss in die Armee einberufen, Hans zog weiter in den Norden Brooklyns in ein Heim der Young Men’s Christian Association (YMCA). Das Geld des Vaters war aufgebraucht und die Beziehung zu den Ritmeesters wohl eher eine Zweckbeziehung gewesen, denn Hans führte die beiden gegenüber dem OSS nicht als Bezugs- oder Auskunftspersonen an. Auch aus der späteren Zeit, als er abends Organische Chemie studierte, zunächst am Polytechnic Institute Brooklyn und danach an der Brooklyner St. John’s University, gab er im OSS-Personalbogen auf die Frage nach drei Nachbarn an seinem letzten Wohnort lediglich an: Billy, Kellner im Restaurant gegenüber der YMCA, sowie den Portier und den Bibliothekar der YMCA, von denen er jeweils den Namen nicht kannte.

      Dennoch empfanden sich die Zwillinge binnen kürzester Zeit als Amerikaner, erinnerte sich Hans Wijnberg später, was wesentlich damit zu tun hatte, dass sie sich in der Schule rasch integriert hatten und ausgezeichnete Leistungen erbrachten. In den Niederlanden hatten sie zwar das Kennemer Lyceum besucht, eine liberale Privatschule, die den Ruf einer ›Reichenschule‹ hatte, aber wie Hans Wijnberg erzählte, gab es dort zwei Arten von Schülern: jene, die zu Hause Tennisplätze hatten, und jene mit Tennisschlägern. Die Wijnberg-Zwillinge selbst besaßen gebrauchte Tennisschläger. Hans war auch alles andere als ein herausragender Schüler, eher unruhig, ungeduldig und eigensinnig, und hatte dafür viele Strafen kassiert. Beide Söhne wiederholten die dritte Klasse der Mittelschule. Sicher war das Niveau der Schule hoch: Sie lernten dort Englisch, Französisch und Deutsch so gut, dass sie in New York keine Sprachprobleme hatten und die US-Armee Hans’ Französisch- und Deutschkenntnisse 1943 als ›fließend‹ einstufte. In New York hatte der Vater für sie die Brooklyn Technical High School ausgewählt, eine Bubenschule mit 6000 Schülern, die ein naturwissenschaftliches Curriculum anbot. Hans tat sich als Redakteur der Schulzeitung hervor, war Präsident des Schachklubs und Kapitän des Schulschachteams.54 Schließlich graduierte er mit Auszeichnung, nur zwölf von 400 Schülern seines Jahrgangs waren besser als er. Sein Interesse galt der Chemie, er schloss das Fach als Zweitbester der Schule ab.

image

      019 Hans Wijnberg in New York, ca. 1939.

      Mit diesem Zeugnis hatte Hans keine Schwierigkeiten, einen Job als Chemiker zu finden. Unweit der YMCA, in Williamsburg, fand er Beschäftigung als Assistent im Forschungslabor von Charles Pfizer & Co, einem der damals innovativsten Pharmaunternehmen der Welt, gegründet von einem deutschen Einwanderer. Unter der Anleitung von Peter Regna führte Hans dort organische und anorganische Analysen durch. Regna arbeitete mit Hochdruck an einem Verfahren zur industriellen Produktion von Penicillin, das aufgrund der beschränkten Herstellung bisher nur innerhalb des Militärs, aber nicht im zivilen Leben Verwendung fand. Die US-Regierung finanzierte diese Arbeiten im Pfizer-Labor, die 1944 schließlich zum Erfolg führten. Regna erfand eine Methode der Isolation und Reinigung des neuen Antibiotikums, die die bisherige Herstellung durch Fermentation verschiedener chemischer Substanzen revolutionierte.55

      Hans fuhr jeden Tag mit dem Rad fünfzehn Minuten ins Labor und verdiente die für einen 20-jährigen Schulabsolventen stolze Summe von 30 Dollar in der Woche. Ausgaben hatte er wenige: sechs Dollar pro Woche für die Unterkunft, ansonsten kaum Zeit für Vergnügungen. Das soziale Leben spielte sich woanders ab: bei der aus Deutschland stammenden Familie Frank in Teaneck, New Jersey, mit deren zwölf Jahre älterem Sohn Albert Hans und Loek eng befreundet waren. Nach dem Eintritt in die Armee hatte Hans bei ihnen seinen legalen Wohnsitz. Am wichtigsten aber war für Hans die Familie Dekker, die in der Bronx lebte. Die Dekkers wurden aus mehreren Gründen zu einer Art Ersatzfamilie: Sie waren eine jüdische Familie, die aus Amsterdam kam und ebenso eng mit den Naturwissenschaften verbunden war wie die eigene. Vater Maurits Dekker hatte Chemie studiert, sich aber weniger im Labor denn als Pionier des wissenschaftlichen Publizierens verdient gemacht, indem er in den Niederlanden den ersten Direktversand für chemische und pharmazeutische Literatur aufbaute. 1939 betraute ihn das traditionsreiche Amsterdamer Verlagshaus Elsevier mit der Aufgabe, in New York eine Niederlassung zu gründen. Unter dem Eindruck des deutschen Angriffs auf Polen entschied er sich im Oktober 1939, nicht alleine nach New York zu gehen, sondern seine Familie mitzunehmen. Das Elsevier-Projekt hatte das Ziel gehabt, ein englischsprachiges Programm einzurichten und so den wissenschaftlichen Austausch zwischen den USA und Europa voranzutreiben. Mit dem deutschen Angriff auf die Niederlande war es tot. Zudem würden jüdische Wissenschaftler nicht mehr in dem Amsterdamer Verlag publizieren können. So gründete Dekker 1940 in der Bronx gemeinsam mit dem deutschen Chemiker Eric Proskauer den Wissenschaftsverlag Interscience, der auf Deutsch erschienene Forschungsarbeiten für den angloamerikanischen Raum zugänglich machte und europäische Publikationstraditionen, etwa die Einführung von Reihen, erfolgreich in den USA etablierte. Sehr rasch publizierte Interscience heute als Klassiker der Chemie geltende Werke wie die Encyclopedia of Chemical Technology.56 Dekker gehörte zu der Minderheit jüdischer Immigranten aus Europa, die unter schwierigen Bedingungen schnell im amerikanischen Business Fuß fassen konnten. Im Haus der Dekkers fand Hans eine offene Atmosphäre, die ihn so inspirierte und anspornte, wie es seine Eltern getan hatten. Und da war Elizabeth, die 16-jährige Tochter der Dekkers, mit der sich Hans im Dezember 1943 verlobte und die er 1946 heiraten sollte.

      Zu diesem Zeitpunkt war Hans bereits Infanterist der US-Armee. Als niederländischer Staatsbürger hätte er auch in die Streitkräfte der Niederlande eintreten können, die in New York ein Rekrutierungsbüro unterhielten und in Kanada Rekruten ausbildeten, allerdings für den Einsatz gegen Japan, das im Jänner 1941 als Verbündeter Deutschlands die niederländischen Kolonien in Südostasien besetzt hatte. Die Vorstellung, nach Kanada transferiert zu werden und dann in Indonesien gegen Japan zu kämpfen, passte nicht zum neuen Zugehörigkeitsgefühl, das Hans und Loek in den vergangenen Jahren in Brooklyn entwickelt hatten: »Wir waren vollkommen amerikanisch.«57

      Die Brüder beantragten die amerikanische Staatsbürgerschaft. Im Juli 1943 erhielt Hans den Einberufungsbefehl zur Infanterie, fünf Monate Grundausbildung im Camp