Es dauerte wirklich nur ein paar Sekunden, das Ergebnis beunruhigte Dr. Parker jedoch.
»Fast vierzig Grad«, murmelte er und griff nach Perrys Handgelenk, um den Puls zu kontrollieren. Er ging rasend schnell, allerdings vermutete Dr. Parker, daß das auch an der schrecklichen Angst des Jungen lag.
»Setz dich bitte hin«, forderte er Perry auf, während er das Stethoskop zur Hand nahm.
Jeff schob das Oberteil des Jogginganzugs hoch und hörte gewissenhaft Herz und Lunge ab. Die Lungengeräusche wiesen tatsächlich bereits auf eine beginnende Entzündung hin.
»Bleib sitzen«, bat Jeff, während er einen steril verpackten Holzspatel herausholte. »Ich muß mir deinen Rachen noch ansehen.«
Angstvoll wich Perry zurück. In seiner Erinnerung tauchte wie ein Schreckgespenst sein Großvater auf, der ihm wegen angeblicher oder tatsächlicher Lügen unzählige Male zur Strafe in einer schrecklichen Prozedur den Rachen ausgepinselt oder seinen Mund mit Seife ausgewaschen hatte.
Jeff bemerkte seine Panik, konnte sie aber nicht einordnen.
»Was ist denn, Perry?« fragte er geduldig. »Ich will doch nur in deinen Mund hineinschauen. Das dauert nicht einmal eine Minute.«
Doch Perry preßte die Lippen zusammen und schüttelte hartnäckig den Kopf.
Jeff legte den Spatel beiseite und tastete vorsichtig die Lymphknoten am Hals ab. Schon diese Berührung genügte, um Perry erneut zurückweichen zu lassen, soweit das im Bett überhaupt ging.
Dr. Parker arbeitete ja normalerweise als Anästhesist und hatte daher mit körperlichen Untersuchungen nicht viel zu tun, aber er konnte sich nicht erinnern, jemals einen so verängstigten Patienten gehabt zu haben.
»Die Lymphknoten sind stark geschwollen«, stellte er fest und fügte eindringlich hinzu: »Perry, ich muß in deinen Mund schauen.«
Wieder schüttelte der Junge den Kopf.
»Ich werde dir nicht weh tun«, versprach Jeff erneut. »Hast du denn gar kein Vertrauen zu deinem großen Bruder?«
»Wer sagt denn, daß Sie mein Bruder sind?« fragte Perry zurück und Dr. Parker hatte dabei das Gefühl, als hätte er einen großen Sieg errungen.
Er lächelte Perry aufmunternd an. »Du kannst es nur nicht sehen, weil ich einen Bart trage, aber weißt du, als ich in deinem Alter war, habe ich genauso ausgesehen wie du jetzt. Wir sind ganz sicher Brüder, Perry.«
»Aber…«, begann der Junge, und als er dabei nun erneut den Mund zum Sprechen öffnete, reagierte Jeff blitzschnell. Er schob den Holzspatel in Perrys Mund und drückte die Zunge herunter. Die normale Körperreaktion darauf erfolgte augenblicklich. Perry mußte würgen und gewährte Jeff auf diese Weise für einen Augenblick ungehinderten Einblick in seinen Rachen. Dieser Moment genügte dem jungen Arzt. Er zog den Spatel zurück und nahm seinen kleinen Bruder tröstend in die Arme.
»Das war gemein«, beklagte sich Perry.
»Ich weiß«, gab Jeff offen zu. »Aber anders hättest du mich nicht hineinschauen lassen.«
»Bin ich sehr krank?« fragte Perry leise.
Dr. Parker nickte. »Ja, allerdings bin ich sicher, daß du schon krank warst, als du hierhergekommen bist. Dein nächtlicher Ausflug hat das nur noch verstärkt. Ich werde dich jetzt in die Klinik hinüberbringen und…«
»Nein!«
Diesmal konnte Jeff einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken. »Du machst es mir aber wirklich nicht leicht, Perry. Die Klinik muß einfach sein. Du hast eine
eitrige Angina und darüber hinaus eine beginnende Lungenentzündung. Das kann ich hier nicht behandeln, zumal ich übermorgen wieder Dienst habe. Außerdem verspreche ich dir, daß man dir auch im Krankenhaus nicht weh tun wird.« Er spürte, wie der schmale Jungenkörper, den er immer noch tröstend in den Armen hielt, zu beben begann.
»Perry, schau mich an«, verlangte Dr. Parker, doch als er in die in Tränen schwimmenden blauen Augen blickte, tat ihm das Herz vor Mitleid weh. »Wovor hast du denn bloß solche Angst?«
Perry schluchzte auf und dann brach plötzlich alles aus ihm heraus. Die Lieblosigkeit seiner Mutter, die Quälereien seines Großvaters, die schmerzhaften Spritzen und Einläufe, die vielen Schläge und Mißhandlungen. Als er fertig war, wußte Dr. Parker nicht, was in seinem Innern überwog – das grenzenlose Mitgefühl mit Perry und seiner jüngeren Schwester oder die schier unbezähmbare Wut auf Rebecca Horn.
»Hör zu, Perry, ich verspreche dir etwas«, erklärte Dr. Parker, während er den leise schluchzenden Jungen noch immer in den Armen hielt. »Und ich schwöre dir, daß ich dieses Versprechen halten werde. Du bist mein Bruder, das verschafft mir gewisse Rechte. Ich werde dafür sorgen, daß du nie wieder in das Haus deiner Mutter zurückkehren mußt. Notfalls adoptiere ich Pam und dich.« Dabei wußte er genau, wie schwierig das werden würde. Er war zwar verheiratet, aber er und Karina arbeiteten als Ärzte im Schichtdienst. Welches Gericht sollte ihnen die Adoption von zwei Teenagern bewilligen, die nachweislich einer ganz besonderen Fürsorge bedurften?
*
Dr. Parker brachte seinen kleinen Bruder in die Waldsee-Klinik und übergab ihn dort der Obhut von Nachtschwester Irmgard Heider.
»Lassen Sie niemanden außer mir zu ihm«, schärfte er ihr ein, dann ließ er den Jungen Narkosegas atmen, damit er weder die vorbereitenden Maßnahmen noch den schmerzhaften Einstich spürte, der beim Legen einer Infusion nicht zu vermeiden war. Zusammen mit der Nachtschwester nahm er bei Perry eine Entleerung von Blase und Darm vor, dann setzte er die Nadel an der Vene unmittelbar hinter dem Handgelenk an und stach ein. Vorsichtig zog er die Nadel zurück und schob gleichzeitig die Kanüle weiter in die Vene vor. Er schloß die Antibiotika-Infusion an und regelte die Tropfgeschwindigkeit, dann stand er auf, warf dem schlafenden Perry einen letzten Blick zu und verließ schließlich das Zimmer.
Draußen wäre er beinahe mit Dr. Daniel zusammengestoßen.
»Ach, hier bist du«, stellte dieser fest. »Karina hat mich angerufen, weil sie dich nicht erreichen konnte.«
Dr. Parker erschrak. »Ist ihr etwas passiert?«
»Nein, sie wollte dir nur sagen, daß sie gut in der Thiersch-Klinik angekommen ist.« Prüfend sah Dr. Daniel seinen Schwiegersohn an. »Du hast heute keinen Dienst. Was tust du also mitten in der Nacht hier?«
»Hat Karina dir denn nichts erzählt?« fragte Jeff zurück.
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Sie war in Eile.«
Jeff atmete tief durch, dann schilderte er in knappen Worten, wie er und Karina den völlig durchnäßten Perry vor der Tür gefunden hatten. Er erzählte von der übermäßigen Angst des Jungen und wie er herausgefunden hatte, wo diese ihren Ursprung hatte.
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Dr. Daniel entschieden.
Jeff war sichtlich erstaunt. »Ich habe Perry zwar erst heute kennengelernt, aber seine Geschichte hörte sich absolut nicht so an, als wäre sie erfunden.«
»Jugendliche können sehr geschickt lügen – vor allem, wenn sie etwas damit erreichen wollen«, entgegnete Dr. Daniel.
Jeff verstand in diesem Augenblick die Welt nicht mehr. Normalerweise sah sein Schwiegervater doch auch rot, wenn Kinder oder Jugendliche mißhandelt wurden. Warum zog er diesmal die Möglichkeit, daß Perrys Geschichte stimmte, überhaupt nicht in Betracht?
»Was macht dich eigentlich so sicher, daß er lügt?« wollte Jeff aus diesem Grund auch schon wissen.
Dr. Daniel atmete tief durch. »Ich kenne seine Mutter. Rebecca Horn kam als Patientin zu mir und…« Er verstummte.
»Und?« hakte Jeff nach.
»Wir kamen uns näher – rein freundschaftlich«,