Tagebücher der Henker von Paris. Henry Sanson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Henry Sanson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961181032
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nachdem er es fünf Jahre nur verwaltet hatte.

      Der Patentbrief, der ihn mit dem Amte bekleidete, ist vom 8. September 1703.

      Charles Sanson hatte den sanften, melancholischen Charakter Marguerite Jouannes, seiner Mutter. Er war mehr zärtlich als leidenschaftlich und sollte nur einmal lieben, aber diese Liebe sollte bis zu seinem Tode dauern.

      Er heiratete am 30. April 1707 Martha Dubut, die Schwester seiner Stiefmutter, für die er lange schon eine geheime Neigung gehabt hatte. –

      Am Abend des 23. März 1720 ging Charles Sanson allein zwischen den Gesträuchen seines Gartens spazieren, als ein Diener ihn benachrichtigte, dass eine Dame ihn dringend zu sprechen verlange. Von einem solchen Besuche zu dieser Stunde überrascht, befahl er, die Dame in den Empfangssalon zu führen, und beeilte sich, selbst dahin zu gelangen.

      Als der Diener sich anschickte, Kerzen anzuzünden, denn es begann schon zu dunkeln, wandte sich die Dame, die ihr Gesicht mit einem langen Schleier bedeckt hatte, an Charles Sanson und redete ihn mit bewegter Stimme an: »Ich bitte sehr, mein Herr, wenn es Ihnen gleichgültig ist, so lassen Sie nicht Licht anzünden; ich habe Ihnen nur wenige Worte zu sagen, und meine Augen sind so schwach, dass der Lichtschein mir Schmerzen verursacht.«

      Mein Ahne begriff, dass sie die Dunkelheit nur wünsche, um ihre Gesichtszüge besser verbergen zu können, und sowohl aus Diskretion als aus Höflichkeit gab er dem Diener ein Zeichen, sich zurückzuziehen.

      »Beruhigen Sie sich, Madame,« sagte mein Ahne. »Dieses arme Haus empfängt selten so hohen Besuch wie den Ihrigen, aber man kennt und übt darin alle Rücksichten, die man einem solchen schuldet. Ich werde ehrfurchtsvoll warten, bis Sie imstande sind, mir den Grund zu nennen, der Sie hierher führt, denn ich begreife wohl, dass es ein sehr peinlicher und schmerzlicher sein muss.«

      Bei diesen Worten brach die Unbekannte in Tränen aus.

      »O ja!« rief sie endlich, »sehr peinlich, schmerzvoll und herzzerreißend! Glauben Sie wohl, dass ich keine Gnade für ihn habe erhalten können? – ein Kind von zweiundzwanzig Jahren, aber sie haben ihm Verderben geschworen! Sie wollen ihn Ihnen überliefern. Ihnen – Ihnen!«

      Und sie warf einen flammenden Blick auf meinen Ahnen.

      »Hören Sie,« rief sie wieder, »ich werde toll darüber! Ich bin soeben aus diesem verwünschten Palais Royal entwichen, aus dieser Höhle der Begierde und Ausschweifung, weil mir die Wut zum Herzen stieg. Sie erregen alle drei meinen Abscheu: dieser jämmerliche Knecht von Abbé, dieser große Tropf von Schotte und dieser zynische Prinz, die sich einbilden, ihre falsche Münze dadurch, dass sie dieselbe in das Blut dieses unglücklichen Kindes tauchen, vergolden zu können! Es sind Feiglinge!«

      Charles Sanson, der befürchtete, dass diese Erregung zu weit gehen könne, und übrigens begierig war, zu hören, was er bereits ahnte, fragte schüchtern:

      »Erlauben Sie mir, Madame, Ihnen bemerklich zu machen, dass ich noch gar nicht weiß, um was es sich handelt, und dass ich die Personen nicht kenne, von denen Sie sprechen.«

      »Was, du kennst sie nicht? Nun, bei Gott! es ist Dubois, Law, und es ist der hohe Herr Regent! Du wirst sie wohl schon kennen, denn es sind die Spitzbuben, mein Junge, die dir Beschäftigung geben werden, wenn man sie ihren Weg gehen lässt.«

      Überrascht und beinahe beleidigt von dieser plötzlichen Vertraulichkeit erwiderte mein Ahne kalt:

      »Ich bin nur ein armer Beamter des Königs und seiner Parlamentsjustiz; mein Amt ist nicht allein bescheiden, sondern es ist auch von Vorurteilsvollen verachtet; ich versuche deshalb auch nicht, unter den Menschen zu leben, und kümmere mich nicht um die Handlungen der Großen.«

      Die Unbekannte schien nicht darauf zu hören.

      »Ja, wie ich dir eben sagte, habe ich sie vergeblich angefleht, sie haben nicht auf mich hören wollen. Der Abbé machte ein andächtiges und heuchlerisches Gesicht, der Schotte fasste sich an das Kinn; sie sprachen zu mir von Staatsgründen, Finanzen und Bankerott – und er, Philipp, ich glaube gar, er hat einen Augenblick gelacht. O Gott, verdamm' mich! ich werde mich an allen dreien rächen, aber an ihm am letzten. Hüte dich, Law! Hüte dich, Dubois! Und nachher haben wir beide miteinander zu tun, Philipp!«

      Als sie die letzten Worte aussprach, erhob sie sich und begann heftig im Saale umherzugehen. Mantel und Schleier waren gefallen.

      »Du siehst,« sagte sie zu meinem ganz erstaunten Ahnen, »dass ich mich geputzt habe, um ihm zu gefallen, um noch einigen Einfluss auf diesen Prinzen auszuüben, den Leichtfertigkeit und Ausschweifung verweichlicht haben. Es hat nichts geholfen; er hat ebenso wenig Sinne als Herz. Als ich ihnen von diesem unglücklichen Kinde sprach, von seiner hohen Geburt, seiner erhabenen Verwandtschaft, seiner Unschuld, denn nicht er hat diesen elenden Juden getötet, da antworteten sie mir nur mit ihrem Papiergelde, mit ihrem System und dem öffentlichen Kredit. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich bin entflohen und direkt hierher gekommen, denn ich habe nur noch Hoffnung zu dir. Nur du allein kannst ihn retten, und du wirst ihn retten – nicht wahr?«

      »Madame,« erwiderte Charles Sanson traurig, »ich bin ebenso wenig imstande zu retten als zu verderben. Ich bin nur ein Arm, ein Schwert, das ein anderer Wille als der meinige in Bewegung setzt. Wenn man mir sagt: »Töte!« so muss ich töten; sagt man mir: »Schlage zu!« so muss ich zuschlagen. Ich bin gerade der Gegensatz des Herrn Regenten, von dem Sie soeben zu mir gesprochen haben; er hat das Recht der Gnade im Namen des Königs, ich habe jedoch nur das des Todes.«

      »Aber du kannst ihn entschlüpfen lassen. Höre mich an: es werden Maßregeln für seine Entweichung während des Transports von der Conciergerie nach dem Grèveplatze getroffen sein. Widersetze dich seiner Flucht nicht, und du wirst königlich belohnt werden.«

      Mein Ahne machte eine Bewegung.

      »Du weißt vielleicht nicht einmal, von wem ich sprechen will. Es ist der Graf Anton von Horn, ein armer Jüngling von kaum zweiundzwanzig Jahren. Man sagt, er habe einen Juden in der Straße Quincampoir getötet, um ihm seine Brieftasche abzunehmen. Das ist aber nicht wahr; ein Piemontese hat es getan.«

      »Madame,« unterbrach sie Charles Sanson, »seit einer Weile habe ich nicht mehr gezweifelt, dass Sie mir die Ehre angetan haben, des Herrn Grafen von Horn wegen hierher zu kommen. Aber ich wiederhole Ihnen: ich kann nichts, durchaus nichts mehr für Herrn von Horn als für den niedrigsten Verbrecher tun, den mir die Justiz des Parlaments überliefert. Meine Pflicht besteht darin, den Urteilsspruch des Parlaments zu vollziehen. Ich werde nichts darüber und nichts darunter tun. Wenn die Verwandten oder Freunde des Herrn Grafen von Horn ein Komplott gemacht haben, um ihn während des Transportes oder an dem Orte der Strafvollziehung zu befreien, so werden sie bei mir weder Beistand noch Widerstand finden. Ich hatte schon die Ehre, Ihnen zu sagen, dass ich unempfindlich bin, und wer ›unempfindlich‹ sagt, der sagt auch ›unbeweglich‹. Ich werde erst dann die Hand an diesen unglücklichen Jüngling legen, wenn alle menschliche Hilfe verloren ist.«

      »O Dank!« rief die arme Unbekannte, die durch diese Worte beruhigter schien. »Ich wusste wohl, dass du nicht ebenso unmenschlich wie jene sein würdest. Du bist der Scharfrichter, nicht wahr? Gut, jene sind: der Regent von Frankreich, ein Minister, der Generalkontrolleur der Finanzen! Sie sind die größten Personen im Staat, aber sie haben keine Seele, und zu dir muss ich kommen, um Mitleid für das Opfer ihrer Grausamkeit, ihrer Leidenschaften und Berechnungen zu erflehen! Hier, nimm diese Rolle, sie enthält hundert Louisdor, und am Tage nach der Rettung des Grafen komme zu mir und fordere, was du willst; ich gebe dir das Wort einer Königin, dass du zufriedengestellt werden sollst.«

      Mein Ahne machte eine zurückweisende Gebärde.

      »Behalten Sie dieses Geld, Madame,« beeilte er sich zu sagen. »Selbst wenn ich Ihre Hoffnungen teilen und auf eine unerwartete Hilfe, die den Herrn Grafen von Horn von dem ihm erwartenden schrecklichen Lose befreien sollte, rechnen könnte, so würde ich es mir zur Pflicht machen, jede Belohnung für meine Neutralität unter solchen Umständen zurückzuweisen. Es ist Sache der Polizeigefreiten und Stadtwache, über die Person des Verurteilten zu wachen; wenn sie ihn entfliehen lassen, so mag Gott gepriesen sein, denn er erspart