Maryn musterte das Eisen. »Es tut mir wirklich leid, alter Freund.«
»Nein«, keuchte er heiser. »Nicht du.«
Etwas, was er nicht näher beschreiben konnte, blitzte in ihren grüngrauen Augen auf. Bedauern vielleicht? »Es ist meine Pflicht.« Sie kam näher, ihre Finger zitterten, als sie sein Kinn packte und seinen Kopf zurückbog. »Versuch stillzuhalten! Dann … geht es schneller …«
Ihm schien das Herz in der Brust zu explodieren. Dûhirions Atem raste, während sich die sengende Hitze seiner Stirn näherte. Er dachte nicht an den Schmerz, den er gleich fühlen würde. Alles, was wieder und wieder durch seinen Kopf schoss, war ein unausgesprochenes Flehen, dass Maryn ihn verschonen würde. Warum ließ Umbra ausgerechnet sie …?
Jegliche Gedanken rissen ab, verloren sich in einer weißen Explosion der Qualen, als das Eisen seine Haut berührte. Dûhirions geschundener Leib verkrampfte, krümmte sich gegen die Hände, die ihn aufrecht hielten. Seine Schreie warfen ein ohrenbetäubendes Echo an die trostlosen Kerkerwände.
»Ich musste es tun.« Maryn sprach wie aus weiter Ferne zu ihm. »Du warst es doch auch, der Valions Ringfinger abtrennen musste, oder?«
Dûhirion ging zu Boden. Um ihn her war alles hohl und schwarz.
»Ich werde bei deiner Hinrichtung sein.« Ihre Stimme wurde immer leiser und undeutlicher. »Es hätte nicht so weit kommen dürfen …«
Er verlor das Bewusstsein.
Kapitel 4 – Valion
Die Nacht war beinahe so hell wie der Tag. Es war unerträglich heiß, die Luft flirrte, grelle Funken tanzten zwischen Rauchschwaden einzelner Brandherde. Schweiß rann über sein Gesicht in seine Augen. Valion blinzelte nicht, ließ sein Ziel keine Sekunde unbeobachtet. Er holte einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken und legte ihn auf die Bogensehne. Jeder Muskel in seinem Körper brannte, das Blut in seinen Adern war zu flüssigem Stahl geworden. Alles, was er hörte, war das stetige Wummern seines Herzens. Der Rhythmus, dem jede Bewegung, jeder seiner Schritte folgte.
Eins …
Er hielt den Atem an.
Zwei …
Erfasste sein Ziel und spannte den Bogen.
Drei …
Ließ die Sehne los und atmete aus. Der Pfeil durchschnitt blitzschnell und lautlos die dichte Luft und bohrte sich durch das linke Auge der Wache. Der Mann taumelte zurück und brach tot zusammen. Das Schwert, mit dem er eben noch zum Streich ausgeholt hatte, rutschte über den feuchten Boden.
Das war die letzte Wache.
Valion atmete schwer und riss die Maske von Mund und Nase.
»Hilfe!« Der spitze Schrei einer Frau schrillte in seinen Ohren. »So helft uns doch!«
Der Dunkelelf drehte den Kopf. Der Morast unter seinen Stiefeln war nicht durch Regen aufgeweicht worden. Er konnte den intensiven Geruch des Blutes metallisch auf seiner Zunge schmecken. Es roch nach Rauch, verkohltem Holz und verbranntem Fleisch. Kelna brannte. Die stechend roten Flammen loderten hoch in den schwarzen Nachthimmel.
»Lauf«, brüllte eine Männerstimme. »Rette dich und deine Schwester!«
»Papa«, kreischte ein Mädchen angsterfüllt. »Ich will nicht! Papa!«
Valion verlor seinen Fokus. Seine Gedanken verschwammen in einem undeutlichen Nebel, während er versuchte zu verstehen, was um ihn her passierte.
Das war nicht Teil des Plans gewesen. Canis Lupus hatte gesagt, sie würden die Zivilisten verschonen.
Der Dunkelelf ließ den Blick schweifen.
Ein Junge, der höchstens zehn Jahre alt sein konnte, zerrte ein kleines Mädchen an der Hand hinter sich her. Sie wehrte sich gegen ihn, streckte die freie Hand nach einem älteren Mann aus, der zwei Rebellen gegenüberstand. Hinter ihm lag der leblose Körper einer Frau, die mit leeren Augen in den Himmel starrte.
»Papa!«, rief das Mädchen wieder.
»Wir müssen laufen«, keuchte der Junge unter Tränen.
Valions Körper war taub, seine Schläfen pochten. Die Kinder kamen direkt auf ihn zu.
Einer der Rebellen holte aus und stach den Mann nieder. Noch während er zu Boden ging, traktierten beide Dunkelelfen ihn mit Tritten. Ihr hysterisches Gelächter übertönte die Schreie des Mädchens.
Der Junge erblickte ihn. Valion war überrascht zu erkennen, dass er ein Hochelf war. Seine Augen waren hellgelb wie blühender Raps im Spätsommer und erfüllt mit namenlosen Grauen. Das Mädchen an seiner Hand, der Mann und die Frau waren Menschen. Vielleicht war er adoptiert worden? Während Valion mehr Gedanken daran verschwendete, als es in dieser Situation vermutlich angebracht wäre, wechselte der Junge abrupt die Richtung und riss das Menschenmädchen mit sich. Sie schluchzte verängstigt auf, stolperte und verlor ihren Schuh.
»Tötet sie alle!« Die Stimme des Rebellenanführers Canis Lupus polterte mit der Gewalt einer Stampede durch das Chaos. »Keiner entkommt dem Zorn der Grauwölfe. Erkämpft euch eure Freiheit!«
Valions Ohren klingelten. Mehrere Dunkelelfen stürmten, wildgeworden von der Schlacht, an ihm vorbei. Er sah sie bloß für den Moment zwischen zwei hektischen Herzschlägen. Sie trugen nicht die Kluft der Rebellen. Keine roten Stirnbänder und weißen Mäntel.
Sein Blick haftete am Kinderschuh. Es waren die Dunkelelfen, die sie befreit hatten. Wofür sie eigentlich hergekommen waren.
Er hörte die Kinder einstimmig schreien, das Schmatzen von Fleisch und den Aufprall, als zwei Körper zu Boden gingen.
Die umliegenden Geräusche schwanden mehr und mehr aus seiner Wahrnehmung. Ihm war, als versänke er langsam in tiefem Gewässer. Alles wurde kalt und unklar. Bis auf den Schuh vor seinen Füßen.
»Unsere Planungen sind abgeschlossen. Es wird Zeit für einen weiteren Befreiungsschlag. Einen weiteren Schritt auf unserem Weg zu einem besseren Adular.«
Lupus’ letzte Ansprache an sie hallte durch seine Erinnerungen. Er sah den Rebellenanführer vor sich stehen. Das Antlitz war zu einer hasserfüllten Fratze geworden, in seinen glutroten Augen brannte das Feuer seines Kampfwillens. Der weiße Totenschädel, der in sein Gesicht tätowiert war, verlieh seiner Mimik etwas Furchteinflößendes, gar Monströses.
»Dieses Dorf beherbergt eine Arena und Ihr wisst so gut wie ich, was dort geschieht. Der Boden der Arena ist mit dem Blut unserer Brüder und Schwestern getränkt. Wir werden diesen grausamen Spielen heute für immer ein Ende bereiten.«
Die umstehenden Rebellen trampelten im Gleichtakt auf den Boden. Valion glaubte zu fühlen, wie die Erde bebte. Unter dem Lederharnisch und seinem durchtränkten Hemd rann Schweiß über seinen Oberkörper.
»Die Dorfbewohner behandeln unsereins wie Vieh. Wir befreien unsere Brüder und Schwestern von ihrer Qual und holen sie in unser Rudel.«
Der Jubel der Rebellen zerriss die Nacht und trug ihn zurück in die Gegenwart. Valion schreckte auf wie aus einem Albtraum, nur um sich in einer viel scheußlicheren Realität wiederzufinden.
»Hey, Valion!«
Ungelenk drehte er sich der Stimme zu. Der Name des Dunkelelfen, der ihn gerufen hatte, war Rovan. Er war eine Schattenklinge, die wie Valion selbst unter Taremia in Malachit gedient hatte. Gemeinsam mit ihm war er aufgebrochen, um die Wachen auszuschalten.
Rovan hielt eine junge Frau fest und stieß sie in seine Richtung. »Feiere unseren Sieg mit uns!«
Die Frau wankte auf ihn zu. Lange Strähnen ihres dunkelblonden Haars hatten sich aus der Haube auf ihrem Kopf gelöst und fielen wirr über ihre Schultern. Ihr Kleid war zerrissen, gab den Blick auf ihre Brüste und den Unterleib frei. Frisches Blut bedeckte