Elanor braucht mich, dachte der Dunkelelf. Die ungeborenen Kinder brauchen mich. Umbra bekommt mich nicht.
Er wusste, dass es schlecht um ihn stand. Das letzte Mal, als er im Verhörzimmer saß, hatte Hastor angeordnet, ihm nichts zu essen und zu trinken zu geben, bis er bereit war zu reden. Er konnte sich nicht bewegen, ohne von Schmerzen überwältigt und gelähmt zu werden. Doch die kaum mehr vorhandene Hoffnung, zu Elanor zurückzukehren, war alles, was er hier unten noch hatte. Alles, woran er sich festhielt und was ihn davon abhielt, den Verstand zu verlieren.
»Wo ist Valion, Nummer Siebenunddreißig?« Hastors Stimme hallte geisterhaft durch den langen Gang des Kerkers. »Was sind die Pläne deines Freundes?«
»Ich weiß es nicht«, nuschelte er in die Leere.
Das letzte Mal hatte er seinen Freund bei der Lebensmittelverteilung in der Aschegrube gesehen. Sie hatten sich gestritten, weil Valion ein idealistischer, impulsiver Idiot war und er das vergaß, wenn Dûhirion ihn nicht regelmäßig daran erinnerte. Ihre Wege hatten sich getrennt und seither hatten sie sich nicht wiedergesehen.
Er hörte Hastors schwere Schritte ungeduldig auf und ab gehen. »Du weißt, dass sich Valion den Rebellen angeschlossen hat und den Untergang der Gilde plant? Wer sind seine Spione?«
Das Echo seiner Worte verhallte. Wie Wasserblasen stiegen sie vom steinernen Boden nach oben und zerplatzten an der Decke. Silben, Vokale und Satzfetzen fielen als feiner Nieselregen auf ihn nieder.
Alles, was er bis zum Zeitpunkt des ersten Verhörs gewusst hatte, war, dass Valion die Explosion in der Oberstadt verursacht hatte. Wobei sein Ziel, seiner Aussage nach, ein simpler Hausbrand gewesen war. Angeblich habe er nicht gewusst, dass sich etwas Explosives im Gebäude befand. Dûhirion zweifelte mal mehr, mal weniger daran.
»Wo ist Valion?«, grollte Hastor.
Diese einfache Frage hatte ihm einiges an Schmerz und Erniedrigung eingebracht. Sie war die Daumenschraube gewesen, die seine Finger brach. Sie war die Peitsche, die wiederholt auf seinen blanken Rücken niederfuhr und seine Haut aufriss.
Ich weiß es nicht, dachte er.
Ein Sturm aus grässlichen Geräuschen erfüllte seine Zelle. Er musste erneut mit anhören, wie seine Knochen barsten, und seine eigenen qualvollen Schreie hallten durch seinen Kopf.
Ich weiß nicht, wo er ist. Ich weiß es nicht, bitte hört endlich AUF!
Dûhirions Atem beschleunigte sich. Er wollte die Augen schließen und sich die Ohren zuhalten, bis alles verschwand. Bis er sich sicher sein konnte, allein zu sein. Doch seine Glieder waren zu schwer, seine Muskeln gehorchten ihm nicht.
Sein Blick huschte unstet durch die Zelle, zwischen den Raumecken hin und her.
Durchhalten, ermahnte er sich. Halt verdammt noch mal durch!
Er rief sich Elanors Bild zurück ins Gedächtnis. Ihren zierlichen Körper, die feingliedrigen Hände, die beinahe so rau waren wie seine eigenen. Ihre bronzefarbene Haut, die zahlreichen Sommersprossen auf ihrer Nase und den Wangen. Die wunderschönen blauen Augen und das lange braune Haar.
Sein Puls verlangsamte sich. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er ihren Duft riechen. Lavendel, Thymian und Bergamotte.
»Wir wissen von deiner Liebschaft, Siebenunddreißig«, raunte Hastor mit einem boshaften Lächeln auf den weißen Lippen. »Wartet sie auf dich, deine Elanor? Wird sie um dich weinen, wenn du nicht zu ihr zurückkehrst?«
Umbra wusste nichts von Elanor. Sie konnten nichts von ihr wissen. Dûhirion starrte zitternd geradeaus. Er war sich nicht mehr sicher, ob der Hochelf wirklich etwas in der Art gesagt hatte oder ob es sein Fieber war, das ihm diese Worte zuflüsterte.
Jemand räusperte sich, er zuckte zusammen und blickte hastig zu den Gitterstäben. Durch seine getrübten Sinne erkannte er nicht sofort, wer vor seiner Zelle stand. Zunächst war dort bloß eine verschwommene Gestalt, klein gewachsen wie ein Kind.
»Faylen?«, raunte er beinahe unhörbar.
Die kleine Dunkelelfin sah auf ihre Füße. Sie hielt die Puppe im Arm, die sie auch bei sich trug, als er sie gefunden hatte. Allein und verloren in der Aschegrube von Malachit, nachdem sie aus Orlean entkommen war. Vermutlich als einzige Überlebende des Massakers im dortigen Elendsviertel der Dunkelelfen.
Nervös rieb Faylen ihre schmutzigen Zehen aneinander. Ihr Blick folgte der langen Kette, die an einem Metallhering im Boden befestigt war, durch die Gitterstäbe führte und in einem eisernen Ring endete, der um seinen Hals lag. Es knirschte vernehmlich, als sie trotz ihres gebrochenen Genicks den Kopf hob und mit dem Zeigefinger auf sein blindes Auge deutete. »Was ist mit deinem Auge passiert?«
»Komm zu dir, Dûhirion!« Ihr Antlitz begann zu flimmern. »Ich bin es, Maryn. Erkennst du mich?«
Dûhirion blinzelte angestrengt und seine Sicht schärfte sich. Die Zwergin hatte ihre Hände auf die Oberschenkel gestützt und beugte sich zu ihm herunter. Sie musterte ihn forschend.
Für den Bruchteil einer Sekunde stieg Scham in ihm auf. Seit er in dieser Zelle festsaß, war er seiner Kleidung beraubt. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, nackt und vollkommen schutzlos zu sein, doch von einer Freundin so gesehen zu werden, rief ungeahnt die Peinlichkeit darüber wieder wach.
Einer ihrer Mundwinkel verzog sich minimal, Maryns Brauen senkten sich bloß ein klein wenig. Es war genug für ihn, um die Verachtung und Abscheu zu erkennen, die sie empfand. Für ihn? Für das, was ihm angetan worden war?
»Was machst du hier, Maryn?«, fragte Dûhirion heiser.
»Ich wollte mit dir sprechen«, antwortete sie und richtete sich auf.
»Wie lange bin ich …« Längeres Sprechen strengte ihn an. Jedes Wort, jede einzelne Silbe war wie ein Dolch, der mit grober Kraft in sein Gesicht gestochen wurde. »… schon hier unten?«
Maryn zog das Tuch, mit dem sie ihre von Brandnarben entstellte untere Gesichtshälfte zu verdecken pflegte, über Mund und Nase. Dunkel erinnerte er sich daran, dass es hier unten erbärmlich stank. »Kann ich dir leider nicht genau sagen. Eine Woche? Vielleicht zwei?«
Der Dunkelelf fluchte.
»Ich bin hier, weil ich heute erfahren habe, dass sie dich hinrichten lassen wollen«, fuhr Maryn fort und wich seinem Blick aus. Ihr Kiefer bewegte sich unter dem Tuch, als würde sie sich auf die Lippe beißen. »Die rechte und linke Hand unseres Gildenmeisters haben sich darüber unterhalten. Es kursieren schon länger Gerüchte, dass Umbra einen Verräter im Kerker gefangen hält. Ich war die Letzte, die dich gesehen hat. Erinnerst du dich? Wir wollten zusammen draußen sitzen und etwas trinken. Ich … ich habe dich noch einmal zurückgerufen und du bist vor meinen Augen niedergeschlagen worden.«
Ja, er erinnerte sich. Es war an jenem Abend gewesen, als er dem Rebellenanführer Canis Lupus zum ersten Mal persönlich begegnet war.
»Da du nicht zurückgekehrt bist, konntest nur du der Verräter sein, von dem sie alle sprechen.« Maryn zupfte an ihrer Maskierung. »Aber … ich will das immer noch nicht glauben. Sag mir, dass du kein Verräter bist, Dûhirion!«
Es mochte an seiner Müdigkeit liegen, an der Dehydrierung und den Schmerzen, dass Dûhirion Schwierigkeiten hatte, ihr zu folgen. »Sie wollen mich hinrichten lassen?«, murmelte er. »Warum sollten sie … woher weißt du …?«
»Ich habe ein Gespräch belauscht.« Maryn wurde ungeduldig. »Man hält dich für einen Verräter.« Unwirsch fuhr sie sich mit der Hand durchs blonde Haar. »Unter den Assassinen wurde munter verbreitet, dass du und Valion zu den Rebellen gehört. Dass du gemeinsam mit ihm die Zuflucht nahe Orlean angegriffen hast. Die Dunkelelfen stehen seither in einem schlechteren Licht als je zuvor. Jeder von ihnen wird als Spion der Grauwölfe verdächtigt. Sie bezichtigen sich sogar gegenseitig der Spionage. Mehrere Assassinen, auch Dunkelelfen, haben deinen Tod gefordert.«
Dûhirion