Vor ihr kroch ein mannshoher Oktopus mit neongrüner Mähnenperücke vorbei und hinterließ eine glitschige Spur. Ein Putzroboter fuhr hinter ihm her. An der Bar hing eine Meute Trolle herum, die wohl aus einer anderen Dimension stammten.
»He, Tentakelhirn, du schummelst!«, quäkte es am Billardtisch.
Hinter Kay öffnete sich das Schott. Ein Rudel Werwölfe – angeführt von einem schwarzen Einhorn – trat ein. Das Einhorn rauchte Pfeife und peitschte Kay im Vorbeigehen den geflochtenen Schweif ins Gesicht.
»Nicht in der Tür rumlungern«, wieherte es.
Eine Spelunke. Genau wie Benedict gesagt hatte.
Wo ging sie jetzt am besten hin? Hier schien jeder jemanden zu kennen, überall saßen Gruppen beisammen und unterhielten sich. Sie war allein und wusste nicht, wohin mit sich.
Ein menschlicher Mann steuerte auf sie zu. Er schwankte stark. Seine Nase war geschwollen und mit verschmiertem Blut bedeckt. Und er war über und über mit rötlichem Staub verkrustet.
Oh bitte, geh einfach an mir vorbei, betete Kay.
Der Mann rempelte sie an. »Huch, Entschuldigung!«, lallte er und stolperte ein paar Schritte zurück, wobei er sie anstarrte, als wäre sie aus dem Nichts erschienen und nicht die ganze Zeit hier an diesem Fleck gestanden.
»Schon gut«, murmelte Kay und wollte an ihm vorbei. Der Mann sah unangenehm abgerissen aus.
An die Bar. Am besten sie ging direkt an die Bar …
»Hey!« Der Typ hielt sie auf. Er beugte sich leicht vor. »Willst du …« Mit einem Ruck öffnete er seinen langen Mantel.
»Oh, bei Galaktikas Titten!«, stöhnte Kay und hielt sich die Augen zu. »Nein, geh weg!« War dieser Perverse ernsthaft nackt unter dem Mantel? Warum schrie denn keiner bei diesem Anblick? Andererseits: Würde in dieser Spelunke überhaupt jemand schreien, wenn sich einer entblößte? War das hier vielleicht normal?
»… ein Rückgrat?«, hörte sie ihn lallen.
Ein Rückgrat? Kay wagte es, hinzusehen. Neben diversen Knochen, Versteinerungen und dubiosen anderen Gegenständen – war das eine verdreckte Harry Potter Wollsocke? – steckte auch ein voll funktionsfähiges Rückgrat in eigens dafür eingenähten Schlaufen in seinem Mantel. Was stimmte mit diesem Kerl eigentlich nicht?
»Heute zwei zum Preis von einem!«, verkündete er stolz.
Kay starrte ihn an. Wenigstens war er nicht nackt. »Da ist aber nur ein Rückgrat«, wandte sie ein.
»Hä? Susi, wo ist das andere Rückgrat hin?« Er guckte sich panisch um, als könnte er es verloren haben. »Wie, wir haben nur eins?«
»Mit wem sprichst du?«
»Nicht mit dir.« Er drehte sich im Kreis. »Hätte schwören können, wir hätten noch ein zweites Rückgrat …«
Okay, alles klar. Ein Loser, der sich mit seiner KI über Voice Plug unterhielt. Natürlich.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihr rechtes Auge. Wieso bei Neptuns Nebeln regte sich ihr Nekromantenauge bei diesem Spinner? Der war vieles, aber ganz sicher nicht tot.
»Wenn du mich entschuldigst«, murmelte Kay und flüchtete auf die Toilette.
Vor dem Spiegel richtete sich gerade eine Dragqueen das schillernde Make-up. Erst im zweiten Moment bemerkte Kay, dass es ein Androide war. Vermutlich ein Erotik-Androide, wenn man sich die Kundschaft dieser Kneipe so ansah.
Sie ging in eine der Kabinen und wartete, bis der Androide den Raum verlassen hatte. Endlich allein trat sie wieder aus der Kabine und drehte den Wasserhahn auf. Während kaltes Wasser aus dem Hahn spritzte und dabei mehr ihre Kleidung einnässte als ihre Hände, betrachtete sie ihr Gesicht im verschmierten Spiegel.
Sie sah krank aus. Krank und bleich. Ihr linkes Auge blickte traurig. Ihr rechtes Nekromantenauge glänzte gewohnt purpurrot im billigen Neonlicht der Toilette. Nichts Ungewöhnliches. Wie immer blickte es in die Ferne und fokussierte sich auf die Welt hinter dieser Welt. Dieses Auge blickte stets hinter den Schleier, auf der Suche nach einer Beute für ihre Kräfte. Seltsamerweise hatte ihr Nekromantenblick vorhin auf diesen Trottel reagiert. Und sie verstand nicht, warum. Vermutlich waren es einfach ihre Nerven. Sie brauchte wirklich ganz dringend einen Drink. Der Barkeeper hatte auf den ersten Blick erstaunlich fähig ausgesehen. Vielleicht beherrschte er ja sogar ein paar Cocktails.
Ihre Gedanken wanderten zu dem verschrobenen Trottel zurück. »Ganz ruhig. Das war nur ein Spinner mit ein paar nutzlosen Knochen und einer ausgefransten Wollsocke«, redete sie sich selbst leise zu. »Der hat dich schon längst wieder vergessen und du kannst einen neuen Versuch starten, an die Bar zu gehen.«
Ihr Spiegelbild verzog angewidert das Gesicht.
Eilig verließ sie die Toilette und marschierte diesmal vehement direkt auf die Bar zu, damit sie keiner mehr anquatschte.
Leider saß der Besoffene inzwischen ebenfalls an der Bar. Natürlich. Überall hier in dieser Kneipe könnte er sich niederlassen. Nein, er musste ausgerechnet den Barkeeper mit seinem Elend vollheulen.
»Ich verstehe einfach nicht, warum keiner ein Rückgrat kaufen will! Das ist erstklassige Qualität!«
»Hallo«, grüßte Kay den Barkeeper und ignorierte den Trottel rechts von ihr, während sie sich an den Tresen lehnte. Sofort zuckte wieder dieser scharfe Schmerz hinter ihrem Auge. Es musste doch an diesem Typen liegen. Nur warum? Sie tat, als wäre nichts. »Kannst du mir einen Broken Galaxy mischen?«, fragte sie den Barkeeper.
Dieser nickte und schien froh zu sein, diesem Gespräch entfliehen zu können.
»Ich kann dir aber auch unseren Hausdrink den FiftyNiner empfehlen, wenn du etwas Starkes suchst«, merkte er an, während er Eiswürfel in ein Glas schaufelte.
»Nie gehört.«
»Er schmeckt für jeden anders.«
Das Schildchen am Revers des Barkeepers wies ihn als Virginio aus. Mit dem weißen Hemd und der schwarzen Fliege sah er beinahe zu kompetent für diesen Laden aus.
»Das ist immer wieder spannend.«
»Den hatte ich auch!«, mischte sich der Trottel ungefragt ein. »Kann ich nur empfehlen! Schmeckt wie … ach, jetzt ist mir das Wort entfallen.«
Kay ließ ihren Blick über seine abgewrackte Erscheinung schweifen und sah dann wieder den Barkeeper an. »Lass mich raten, man muss für diesen Drink einen Verzicht auf Klageanspruch unterzeichnen, richtig?«
Virginio grinste. »Muss man das nicht für alles, was Spaß macht?«
»Den Broken Galaxy, bitte.«
»Also wirklich!«, empörte sich der Trottel darüber, dass sie seine Empfehlung überging. »Huch, du bist ja Nekromantin!«, keuchte er dann. Scheinbar war der Anblick ihres roten Auges nun auch durch seinen FiftyNiner-Rausch gedrungen.
Virginio verdrehte die Augen. »Wow. Das war dezent, Cornelius.«
»Hä? Was meinst du?« Cornelius guckte verwirrt.
Sollte sie sich jetzt wirklich mit diesem Loser unterhalten? Sie könnte ihn auch einfach ignorieren, bis ihr Drink fertig war und sich dann in eine ruhige Ecke verziehen. Andererseits war sie ja extra hierhergekommen, um mal wieder soziale Interaktionen zu pflegen. Damit sie nicht so erbärmlich endete wie diese schräge Gestalt neben ihr.
»Ja, ich bin Nekromantin. Mein Name ist Kay. Und du bist …?« Na also. Die Grundlagen einer Konversation beherrschte sie ja doch noch.
»Cornelius Smith, freiberuflicher Archäologe. Zu Ihren Diensten.« Er zog eine Visitenkarte aus dem Mantel und reichte sie ihr.
Die Karte war aus Papier. Echtem Papier. Kay hatte bis gerade eben nicht mal