Psychotherapie und Psychosomatik. Michael Ermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Ermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170368026
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der Psychoanalyse stand die Erforschung der entwicklungsgeschichtlich relativ späten Konflikte, die den Konversionsneurosen, der Hysterie, der Zwangsneurose und der Phobie zugrunde liegen. Sie führte zur Entdeckung der Verdrängung und des Ödipuskomplexes als Kern dieser Störungen. Sie wurde als intrapsychische Konfliktpathologie zwischen den Instanzen Ich, Es und Überich konzipiert. Das bewirkte, dass der verdrängte Ödipuskomplex für lange Zeit der einzige Bezugspunkt für das Verständnis aller neurotischen Störungen und, darüber hinaus, der zentrale Bezugspunkt der psychoanalytischen Theorie und Praxis wurde. Die Entwicklungspathologie mit den darauf aufbauenden Strukturstörungen erfuhr erst in den 1950er Jahren eine stärkere Beachtung.

      Der Begriff höher strukturiert bezieht sich einerseits auf den Vergleich mit dem zuvor abgehandelten niederen und mittleren Strukturniveau. Andererseits markiert er die Abgrenzung vom reifen Strukturniveau (image Kap. 4.5), das als Ziel einer idealerweise ungestörten Entwicklung angenommen wird.

      Das höhere Strukturniveau wird erst in relativ späten Phasen der Kindheitsentwicklung erreicht, nämlich nachdem die frühe Individuationsentwicklung angemessen bewältigt worden ist und die Autonomieentwicklung voranschreitet. Voraussetzung ist ein Konflikterleben in integrierten Objektbeziehungen, die auch begrifflich, d. h. in komplexen Vorstellungen, erfasst werden können. Es wird im deklarativen Funktionsmodus kodiert und als explizit-deklarative Erinnerungen gespeichert. Es bildet das autobiografische Gedächtnis, in dem die Erinnerungen auf das Selbst bezogen erlebt werden und eine deutliche Beziehung zur Zeitdimension besteht (image Kap. 2.2.1). Dieser Zustand beginnt mit der Sprachentwicklung im zweiten Lebensjahr. Er ist am Ende des dritten Lebensjahres so weit ausgereift, dass pathogene Einflüsse auf dem höheren Strukturniveau, d. h. als Konfliktpathologie, organisiert werden.

      Den wichtigsten Einfluss hat in diesem Stadium die Verarbeitung der familiären Erziehung. Zu Fixierungen kommt es, wenn bei der Bewältigung und Integration der expansiven, aggressiven und libidinös-sinnlichen Bedürfnisse und der Beziehungskonflikte dieser Entwicklungsperiode keine angemessene Orientierung und Unterstützung gegeben wird. Das bedeutet zumeist, dass die Erziehung kein ausgewogenes Verhältnis zwischen Gewähren und Begrenzen gibt. Übermäßige Verwöhnung oder Versagungen oder ein nicht vorhersehbarer willkürlicher Wechsel zwischen beiden gelten in dieser Entwicklungsphase als Ausgangspunkt für eine neurotische Entwicklung.136 Sie führen dazu, dass die Lösung der phasenspezifischen motorisch-aggressiven, phallisch-narzisstischen und libidinösen Konflikte erschwert wird. Es werden konflikthafte Selbst-Objekt-Repräsentanzen verinnerlicht. Erziehungspersonen stehen dabei nicht ausreichend als Hilfe bei Konfliktlösungen und bei der Bewältigung von Spannungen zur Verfügung. Die Folge ist, dass die Konflikte verdrängt werden. Sie nehmen später, in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter aus dem Unbewussten heraus auf das aktuelle Erleben und Verhalten Einfluss.

      Das Ich und die Objektbeziehungen

      Beginnend mit etwa zweieinhalb bis drei Jahren erreicht das Ich einen Entwicklungsstand, der für das weitere Leben bestimmend bleibt. Es ist nun in der Lage, widersprüchliche Wahrnehmungen auszuhalten und Beziehungen relativ unabhängig von der realen Anwesenheit des anderen aufrechtzuerhalten. Diese Ichentwicklung ist die Basis für integrierte (gut und schlecht vereinende) reife Objektbeziehungen. Der Heranwachsende verfügt jetzt über ein breites Spektrum von Ichfunktionen, um die immer komplexer werdenden Aufgaben des Lebens zu bewältigen. Zum Beispiel beginnt er jetzt, vorausschauend und planend zu denken und zu handeln. Er verfügt nun über Bewältigungsstrategien und eine Verdrängungsabwehr, die sich weitgehend auf innerseelische Vorgänge und die Veränderung des Erlebens beschränken und nicht mehr manipulativ die äußere Wirklichkeit verändern.

      Die Ichreife des höheren Strukturniveaus ist anfangs noch labil und bedarf der Stützung durch eine phasengerechte Erziehung. Speziell unter dem Druck des Ödipuskomplexes kann es zur Regression anstatt zur anstehenden Weiterentwicklung kommen. Sie besteht in einer Rückwärtsentwicklung mit Verlust der erreichten Ichreife. Auch im späteren Leben können schwere Belastungen, z. B. durch Traumatisierungen, einen regressiven Verlust von Ichfunktionen bewirken.

      Höher strukturierte Konfliktdynamik

      Die häufigsten Konflikte dieser Lebensphase betreffen vor allem die phasenspezifischen Entwicklungskonflikte im Zusammenhang mit der ödipalen Beziehungsambivalenz gegenüber den Eltern. Sie umfassen Affekte, Triebe und Bedürfnisse, Beziehungen, das Selbst- und Identitätserleben, Ideale und Verbote – ja das gesamte Erleben. Hinzu kommen Konflikte um die sexuelle Identität. Durch Regressionwird auch das bereits früher entwickelte Trieb- und Beziehungserleben des Autonomiekomplexes mit in die Konfliktpathologie einbezogen. Die Abgrenzung zum mittleren Strukturniveau mit der präödipalen Triangulierung als dynamischem Zentrum ist daher fließend.

      Diese Konflikte wurden in der traditionellen Psychoanalyse anschaulich im Strukturmodell der Psychoanalyse137 (image Kap. 2.1.4) als ein unbewusster Prozess zwischen den psychischen Instanzen Ich, Überich und Es beschrieben. Heute betrachtet man diese Dynamik unter dem Aspekt der zwischenmenschlichen Erfahrung. Sie bewirkt, dass das Konflikterleben in konflikthafte Beziehungsrepräsentanzen umgeformt und verinnerlicht wird (image Kap. 2.1.1). Sie sind zwar unbewusst, behalten aber ihren Einfluss auf das Erleben und Verhalten. Die Offenlegung der Beziehungsrepräsentanzen und des darin enthaltenen Konfliktpotenzials gilt als Kern der Behandlung höherstrukturierter Störungen.

      Die Verdrängungsabwehr138

      Der typische Modus der Konfliktverarbeitung auf höherem Strukturniveau ist die Verdrängungsabwehr. Dabei kommen neben der eigentlichen Verdrängung auch andere Abwehrmechanismen zum Tragen, die dazu führen, dass bewusstes Erleben in unbewusste Vorstellungen transformiert wird und unbewusst bleibt. Dazu gehören z. B. die Verschiebung, die Reaktionsbildung und die verschiedenen Formen von Gefühlsverdrängung (image Kap. 2.1.2). Die Verdrängungsabwehr setzt stabile Selbst- und Objektrepräsentanzen voraus, die parallel mit der Sprachentwicklung und dem explizit-deklarativen Gedächtnismodus entstehen. Dieser Modus wird mit zweieinhalb Jahren etabliert, wenn das höhere Strukturniveau sich zu etablieren beginnt.

      Wenn durch psychosoziale Konflikte und Belastungen im aktuellen Leben verdrängte Konfliktthemen berührt werden, wird die Verdrängungsabwehr geschwächt. Geschehnisse, welche die verdrängten Konflikte wiederbeleben, können deshalb zur psychosozialen Auslösesituation für die Manifestation neurotischer Symptome werden. Auslösend wirken Versuchungen und Versagungen, die das gleiche Muster haben wie die verdrängten ungelösten Konflikte der früheren Entwicklung. Man kann für das höhere Strukturniveau deshalb von einer Wiederholung und Aktualisierung verdrängter Konflikte und insofern von einer individuellen Spezifität der Auslösesituation sprechen.

      Für die Auslösesituation ist es kennzeichnend, dass die verdrängte Bedeutung des auslösenden Ereignisses, d. h. die unbewusste Versagung, die darin steckt, und das Aufbegehren dagegen, den Betroffenen nicht bewusst sind. Sie erkennen nicht, dass der äußere aktuelle Konflikt eine Wiederholung eines verinnerlichten, unbewusst gewordenen Konfliktes darstellt. Diese