Das änderte sich mit der Etablierung der Psychoanalyse in Institutionen und Polikliniken. Hier war der Untersucher nicht mehr zwangsläufig auch der zukünftige Behandler. Das Untersuchungsgespräch war damit nicht mehr unmittelbar Teil der Behandlung. Um die für die Diagnose und Indikationsstellung notwendigen Informationen zu erlangen, führte Harald Schultz-Hencke142 um 1950 im Berliner Institut für Psychogene Erkrankungen, einer psychoanalytischen Poliklinik, das Konzept der tiefenpsychologischen Anamnese ein (
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich vor allem von Seiten der Psychiatrie das Interesse, psychische Störungen systematisch zu erfassen und damit wissenschaftlichen Studien zugänglich zu machen. Dahinter standen Forderungen nach Prozess- und Wirksamkeitsuntersuchungen in der Psychotherapie. Sie wurden vor allem mit der Finanzierung von Psychotherapien durch Krankenkassen und Versicherungen begründet. Damit gewannen Klassifikationssysteme143 an Bedeutung, für welche die individuelle Dynamik sowie biografische und psychosoziale Hintergründe wenig Belang hatten. Sie waren (und sind) vorrangig darauf ausgerichtet, Syndrome und Symptome zu kategorisieren und zu klassifizieren. Komplexe Zusammenhänge bilden sich darin meistens nicht ab. Stattdessen werden Mehrfachdiagnosen vergeben und eine Koexistenz von Phänomenen im Sinne einer Komorbidität angenommen.
In den 1990er Jahren wurde die »Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik« (OPD) entwickelt, die ein sehr umfassendes Instrument für die Befunderhebung und deren Dokumentation darstellt. Es trägt der Tatsache Rechnung, dass psychogene Störungen nicht mehr ausschließlich als Folge ungelöster intrapsychischer Konflikte zu betrachten sind (Konfliktpathologie), die sich in der Übertragung abbilden. Stattdessen werden zunehmend Störungen der Persönlichkeitsentwicklung aufgrund dysfunktionaler Beziehungen in der Kindheit in Betracht gezogen. Sie manifestieren sich in defizitären Funktionen der psychischen Struktur (Entwicklungspathologie) mit nachhaltigen Folgen für die Selbstregulation und Beziehungsgestaltung. Diese werden verständlicherweise in der Untersuchungssituation und in der Beziehung zum Untersucher deutlich, auch wenn sie nicht als »Übertragungen« im ursprünglichen Sinne betrachtet werden können.
Bevorzugt wird in der psychodynamischen Diagnostik ein mehrdimensionales Vorgehen, in dem die deskriptive Klassifikation nach ICD mit explizit psychodynamischen Kategorien wie Dynamik, Struktur, Beziehung u. a. verbunden wird (
Trotz dieser Entwicklungen halten sich viele dynamische Psychotherapeuten nach wie vor an die »Kunst« des Diagnostizierens, indem sie die Manifestation von unbewussten Konflikten und strukturellen Defiziten im szenischen Interview beobachten und die Klärung in der gezielten biografischen Anamnese vertiefen. Diagnostik wird dabei als interaktioneller Prozess aufgefasst, in dem wesentliche Beziehungsmuster und diagnostische Fokusse sich abbilden.
5.1 Psychodynamische Diagnostik im Vorfeld der Fachpsychotherapie
Die Diagnostik im Vorfeld der Fachpsychotherapie hat mehrere Aufgaben und Ziele:
• die Erkennung von Störungen: Erfassung, Beschreibung, Systematisierung und Zuordnung von Symptomen und Begleitumständen,
• die Erkennung von Ursachen: hier insbesondere die Klärung, ob und in welchem Maße seelische Faktoren an der Entstehung einer Krankheit beteiligt sind. Dabei sind differenzialdiagnostische Abklärungen möglicher körperlicher und psychiatrischer Ursachen eine Selbstverständlichkeit;
• die Erkennung von Krankheitsfolgen: hier des Krankheitsverhaltens (z. B. Compliance) und der Krankheitsbewältigung,
• die Erkennung von Ressourcen: Beurteilung konstruktiver persönlicher Fähigkeiten im Umgang mit einer Erkrankung und sozialer Hilfen bei der Krankheitsbewältigung,
• die Indikationsstellung und Behandlungsplanung: hier insbesondere Klärung der Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie (Indikation und Prognose),
• die Beratung der Patienten: hier insbesondere bezüglich der Einleitung einer psychotherapeutischen Behandlung, aber auch bezüglich Krankheitsverhalten und Krankheitsbewältigung.
Daneben dient die Diagnostik dazu, durch einen sachgerechten Umgang, eine kenntnisreiche Beurteilung und eine verständnisvolle Haltung in den Untersuchungsgesprächen das Vertrauen der Patienten zu gewinnen und eine tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen. Sie ist die Basis für eine verantwortungsvolle Führung und vertrauensvolle Begleitung bei den erforderlichen Untersuchungs- und Behandlungsschritten.
5.1.1 Die Untersuchung von Patienten mit psychogenen Störungen
Im Zentrum der allgemeinen Diagnostik steht das Untersuchungsgespräch. Es hat die Aufgabe, die körperliche, seelische und soziale Gesamtsituation des Kranken zu erfassen, um das Gewicht möglicher Krankheitsfaktoren abzuschätzen. Die kompetente Diagnostik in allen medizinischen Fachgebieten enthält also auch psychosomatisch-psychotherapeutische Aspekte, d. h. sie berücksichtigt auch Aspekte des Erlebens und Verhaltens, der seelischen und der sozialen Situation.
Jede ätiologische Klärung schließt auch die Möglichkeit mit ein,
• dass jede Krankheit durch seelische Faktoren bedingt oder mitbedingt sein kann
• dass es sich um eine überwiegend seelisch bedingte Erkrankung handeln kann (psychogene Störung),
• dass eine körperliche Erkrankung neurotisch verarbeitet werden kann (neurotische Überlagerung einer primär somatischen Erkrankung),
• dass eine körperliche Erkrankung zum Auslösefaktor für eine neurotische Dekompensation werden kann (sekundäre psychogene Störung),
• dass Belastungen, die im Zusammenhang mit einer Erkrankung entstehen, nicht verarbeitet werden können (somatopsychische Anpassungsstörungen).
Angesichts der großen Bedeutung seelischer Krankheitsfaktoren besteht die Kunst der Diagnostik darin, seelische Leiden nicht durch eine einseitig somatische Abklärung zu chronifizieren und körperliche Erkrankungen nicht zu psychologisieren. Man muss bedenken:
30 Prozent der Patienten in der Sprechstunde des Hausarztes leiden unter psychogenen Störungen!
Die Frühdiagnose ist entscheidend für eine rechtzeitige Einleitung adäquater Behandlungen und oft auch entscheidend für den Behandlungserfolg. Wenn am Krankheitsbeginn eine psychosoziale Auslösesituation steht, die übermäßig belastend ist oder wegen spezifischer Vorerfahrungen nicht verarbeitet werden kann, dann ist der Verdacht berechtigt, dass psychische Faktoren an der Entstehung der Krankheit beteiligt sind. Dagegen reicht es nicht aus, dass keine symptomerklärenden körperlichen Befunde vorliegen.
• Relativ leicht zu erkennen sind reaktive und posttraumatische Störungen. Bei diesen kann die Ätiologie unmittelbar aus den Mitteilungen der Patienten erschlossen werden. Sie besteht in akuten oder chronischen psychosozialen Belastungen, z. B. im Rahmen