Schutzpatrone. Rudolf Trink. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Trink
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960743026
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sie aus. Zwei der Fotos zeigten Anita Tolser, die verschwundene junge Frau, von der er mehrere Fotos in dem kopierten Aktenkonvolut gefunden hatte, das ihm Moser zur Verfügung gestellt hatte.

      Es dauerte mehrere Stunden, bis Rumpler mit dem Ergebnis seiner Arbeit wirklich zufrieden war, weil es ihm wichtig war, dass die anderen jungen Frauen auf den Bildern eine gewisse Ähnlichkeit mit Anita Tolser aufwiesen, ihr aber wiederum nicht allzu ähnlich waren. Zuletzt lagen vor ihm insgesamt fünf Blätter mit jeweils acht Frauenporträts, wobei auf zwei der Blätter Anita Tolser abgebildet war. Rumpler steckte die fertigen Blätter in ein großes Kuvert und bückte sich, um die vielen am Boden unter seinem Sessel liegenden Papierschnipsel einzusammeln, musste sein Vorhaben jedoch gleich wieder aufgeben, weil er feststellte, dass Rosamunde es sich auf den Papierabschnitten gemütlich gemacht hatte. Sie lag dort in einer unerschütterlichen Ruhe, die ihn gleichermaßen beeindruckte und rührte.

      Als er allerdings bald darauf in die Küche ging, war Rosamundes kontemplative Phase blitzartig beendet und sie beeilte sich, ebenfalls rechtzeitig dort zu sein, um ihre Ansprüche auf Futter anzumelden. Nachdem er ihren Napf gefüllt hatte, hatte er es eilig, wieder ins Wohnzimmer zu kommen, um die Papierreste rechtzeitig vor Rosamundes Wiederkehr in den großen Papiersack, in dem er sein Altpapier sammelte, zu entsorgen.

      Am nächsten Morgen ging Rumpler wie gewohnt zum Frühstücken ins Café Sperl. Er funkte der Kellnerin, Frau Maria, seine „wie üblich“-Bestellung, die eine Melange und zwei Buttersemmeln umfasste. Als Lektüre hatte er sich die Moserschen Aktenkopien mitgenommen, um sie noch ein weiteres Mal zu lesen. Frau Maria brachte sein gewünschtes Frühstück und warf dabei einen ganz kurzen, prüfenden Blick auf seine Unterlagen.

      „Passens gut auf sich auf, Herr Kommissar.“

      Er blickte überrascht auf, sah, dass sie seinen Lesestoff intuitiv richtig zugeordnet hatte, und lächelte. „Mach ich, Frau Maria.“

      „Dann is es ja gut“, meinte sie nur, bevor sie sich wieder anderen Gästen zuwandte.

      Er sah ihr nach, einer kleinen, drahtigen Person von knapp fünfzig Jahren mit einem energischen Gang. Was Rumpler ganz besonders an ihr schätzte, war ihre völlig unaufdringliche und trotzdem sehr wirksame Aufmerksamkeit, eine Eigenschaft, die heutzutage immer seltener und damit auch wertvoller wurde. Frau Maria erkannte sofort, wenn ein Gast etwas brauchte.

      Rumpler machte genussvoll den ersten Schluck von seiner Melange, nachdem er, seiner Gewohnheit entsprechend, vorher an seinem Kaffee mit Genuss gerochen hatte, und vertiefte sich dann zum zweiten Mal in die Unterlagen. Er las sehr sorgfältig die Beschreibung von Anita Tolser, las über ihre Lebensumstände, zu denen auch ihre weitgehende Entfremdung von ihrer Familie gehörte, was erklären mochte, dass ihr Freund und ihre Arbeitskollegen sie als vermisst gemeldet hatten, nicht aber ihre Eltern. Rumpler las auch die eher spärlich gehaltene Geschichte ihres Verschwindens. Zwei junge Männer hatten in Anita Tolsers Leben eine Rolle gespielt. Zum einen ein gewisser Konrad Kraufer, der angehende Chef des Unternehmens Kraufer-Baustoffhandel, mit dem Frau Tolser befreundet gewesen war, zum anderen ein Franz Locher, der Ex-Freund der Vermissten, der aus sehr einfachen Verhältnissen stammte. Kraufer hatte als Erster der Polizei gemeldet, dass Anita Tolser abgängig war, und er war es auch gewesen, der der Polizei einen Hinweis auf ihren Verflossenen Franz Locher gegeben hatte. Locher hatte sich durch sein Verhalten nach der Trennung von Anita Tolser verdächtig gemacht, weil er seinerzeit nächtelang vor dem Haus der Kraufers auf- und abgegangen war und ihre Wohnung beobachtet hatte. Das war Nachbarn aufgefallen und sie hatten sich an die Polizei gewandt, die ihn aufgefordert hatte, die Gegend künftig zu meiden.

      Nach dem Verschwinden von Anita Tolser wechselten sich in seinem Verhalten gegenüber der Polizei Phasen von herablassender Überheblichkeit mit solchen von umfangreichen Selbstbeschuldigungen ab. Bei einer Vernehmung bezichtigte sich Locher ausdrücklich der Schuld an Anita Tolsers Verschwinden, ohne das aber in irgendeiner Weise näher zu erläutern. Wie Rumpler den Unterlagen entnehmen konnte, wurde er daraufhin von der Polizei ziemlich in die Zange genommen und sollte sich nach einem umfangreichen Verhör am darauf folgenden Tag wieder bei der Polizei melden, was er aber nicht tat. Als er daraufhin polizeilich gesucht wurde, stellte sich heraus, dass er sich auf dem Dachboden seines Elternhauses, in dem er mit seiner Mutter gelebt hatte, nachdem der Vater schon vor Jahren verstorben war, erhängt hatte. Es gab zwar keine unmittelbaren Beweise für seine Schuld, aber er hatte immerhin einen Abschiedsbrief hinterlassen, aus dem hervorging, dass er sich für das Verschwinden von Anita Tolser verantwortlich gefühlt hatte. Was hingegen völlig offenblieb, war die Frage nach Anita Tolsers Leiche, falls sie denn umgebracht worden war. Von Frau Tolser fehlte weiterhin jede Spur. Nach dem Selbstmord Franz Lochers waren in einigen Zeitungen Mutmaßungen über einen Zusammenhang mit dem Verschwinden von Anita Tolser geäußert worden, denen Lochers Mutter in einem Exklusivinterview energisch entgegengetreten war. Rumpler beschloss, wenn irgendwie möglich, mit ihr zu sprechen. Als entsprechender Anknüpfungspunkt konnte ihm dieses Interview dienen und als Begründung für sein Interesse konnte er anführen, dass auch er von der Unschuld Lochers überzeugt sei, aber als Ex-Polizist natürlich nicht mehr in die offiziellen Ermittlungen involviert war, sondern höchstens inoffiziell recherchieren könnte.

      Konrad Kraufer, der aktuelle Freund der Verschwundenen, war ebenfalls von der Polizei genau durchleuchtet worden, wobei aber für ihn sprach, dass er selbst als Erster gemeldet hatte, dass Anita Tolser abgängig war. Des Weiteren hatte sich einwandfrei belegen lassen, dass er in dem Zeitraum, in dem Frau Tolser verschwunden sein musste, in der Firma seines Vaters mit einer dringenden Projektarbeit beschäftigt gewesen war. Die Firma Kraufer-Baustoffhandel hatte ein elektronisches Stechuhr-System, das ohne jeden Zweifel bestätigte, ob ein Mitarbeiter der Firma zu einem bestimmten Zeitpunkt anwesend war oder nicht.

      Rumplers Gedanken kehrten wieder zu Hedwig Locher zurück. Es war ihm klar, dass er sich mit einem Besuch bei ihr gleich mehrfach auf heikles Terrain begeben würde. Es konnte nämlich durchaus sein, dass Frau Locher seine Recherchen missbilligen würde und sich vielleicht bei seinen Ex-Kollegen über ihn beschwerte. In diesem Fall hätte er wohl einige Mühe, ihnen zu erklären, warum er solche privaten Nachforschungen anstellte. Noch viel heikler war allerdings die Möglichkeit, dass Frau Locher aufgrund seiner Kontaktnahme wieder Hoffnung schöpfte, dass ihr verstorbener Sohn durch Rumplers Aktivitäten rehabilitiert werden würde und er diese Hoffnungen einer verzweifelten Mutter vielleicht benutzte, letztlich aber würde enttäuschen müssen. Objektiv sprach also vieles gegen den Besuch, eigentlich alles, außer Rumplers Gefühl, das ihm sagte, dass es genau jetzt richtig wäre, diese schwierige Mission zu unternehmen. Er überlegte noch kurz, anstelle von Frau Locher Rudi Schätter zu besuchen und ihm die vorbereiteten Fotos vorzulegen, entschied sich aber dann doch dagegen und beschloss, Frau Locher anzurufen. Weil er im Café Sperl, wie auch in anderen Kaffeehäusern, wenn es nur irgendwie möglich war, grundsätzlich nicht telefonierte, weil ihm das wie ein Sakrileg vorgekommen wäre, winkte Rumpler der Kellnerin, zahlte und ging, um seinen Plan zu Hause weiter zu verfolgen, nicht ohne das Café Sperl mit einem dankbaren Blick zu durchwandern, jenes von seiner wechselvollen Geschichte förmlich imprägnierte Kaffeehaus, das während der Besatzungszeit sogar schon als Stall für die Pferde russischer Soldaten hatte herhalten müssen.

      Zu Hause verköstigte er zunächst Rosamunde mit einer kleinen Mahlzeit und holte anschließend sein Telefonbuch hervor. Rumpler war einer jener immer seltener werdenden Kunden der Post, die noch ein papierenes Telefonbuch hatten. Er schlug unter Hedwig Locher nach, fand zwei Frauen ihres Namens, wusste aber aufgrund des Moserschen Protokolls, dass es sich nur um jene Hedwig Locher handeln konnte, die in Simmering, und zwar in der Kaiserebersdorfer Straße unter einer der höheren Hausnummern wohnte. Rumpler speicherte zunächst Frau Lochers Telefonnummer und Adresse in den Kontaktdaten seines Handys und tippte dann die Nummer an, während er Rosamundes Stirn kraulte, was er die Mütze machen nannte. Rosamunde liebte es, die Mütze gemacht zu bekommen. Sehr. Zumindest meistens.

      Erst nach mehrmaligem Läuten meldete sich eine leicht kratzige Frauenstimme. „Hallo.“

      „Guten Morgen. Mein Name ist Rumpler, Johann Rumpler. Spreche ich mit Frau Locher?“

      Sie reagierte mit einer Gegenfrage, ohne auf seine Frage auch nur im Geringsten einzugehen. „Und