Während er so dasaß, die großen Hände mit den langen, kräftigen Fingern auf dem Buch, kam Rosamunde und strich ihm um die Beine. Er machte ihr zunächst eine kleine Kopfmassage und strich ihr dann sanft über den Rücken.
„Es geht wieder los, Alte.“
Sie sprang mit überraschender Gelenkigkeit auf einen Sessel und von dort auf ihren traditionellen Liegeplatz, den ihr Rumpler auf dem Fensterbrett zwischen seinen prächtigen Orchideen freigelassen hatte, und schenkte ihm einen undurchdringlichen Blick.
*
3.
Für den nächsten Tag, einen Samstag, erwartete Rumpler Besuch. Einer seiner Waldviertler Verwandten hatte sich angesagt, ein entfernter Großcousin. Er würde nach Wien kommen, um seinem etwa sechs oder sieben Jahre alten Buben Schönbrunn zu zeigen. Rumpler hatte vorgeschlagen, gemeinsam den Tiergarten zu besuchen, und er hatte die beiden anschließend zu einer Jause in seine Wohnung eingeladen.
Als sie einander wie vereinbart am Samstag um elf Uhr im Kassenbereich des Tiergartens trafen, bereute Rumpler seine Einladung sofort wieder, so unruhig und quengelig war der Bub, der auf den nicht sehr waldviertlerischen Namen Kevin getauft war. Im Tiergarten klopfte Kevin trotz der gut sichtbaren Verbotshinweise im Aquarien- und auch im Terrarienhaus heftig gegen die Scheiben, wobei er die halbherzig vorgebrachten Ermahnungen seines Vaters komplett ignorierte und wütend wurde, dass er die Affen wegen des allgemeinen Fütterungsverbots nicht füttern durfte. Vom Tiger war er enttäuscht, weil er nicht brüllte.
Rumplers ganze Hoffnung richtete sich darauf, dass der Tiergartenbesuch den Buben ermüden und damit erträglicher machen würde, was sich aber als Trugschluss erwies. Kaum waren sie in Rumplers Wohnung eingelangt, als der Bub auch schon von seinem Vater eine neue Beschäftigung verlangte.
Dieser blickte Rumpler etwas hilflos an und meinte: „Er is ja so gscheit, der Kevin.“
Rosamunde, die die Kunst des spurlosen Verschwindens beherrschte, hatte die Lage sofort richtig eingeschätzt und gab eine Probe ihres Könnens. Rumpler beneidete sie glühend. Schließlich brachte er ohne viel Hoffnung einen Zeichenblock und einen schwarzen Filzstift zum Vorschein, Buntstifte hatte er leider nicht vorrätig, und er schlug Kevin vor, eine Zeichnung zu machen, was dieser zu seinem Erstaunen anstandslos akzeptierte. Das gab Rumpler die Gelegenheit, sich in die Küche zurückzuziehen und die versprochene Jause zu richten.
Als er schließlich einige Brötchen und einen Marmorgugelhupf ins Wohnzimmer brachte, war es mit Kevins Ruhe plötzlich vorbei. Der Bub schrie auf wie am Spieß: „Jetzt is die Zeichnung hin. Hin, hin, hin. Dein blödes Handy is schuld.“
Tatsächlich hatte sein Vater sein Mobiltelefon neben ihm abgelegt, es hatte plötzlich geläutet, Kevin war deshalb zusammengezuckt und hatte die Zeichnung ruiniert. Sein Vater bemühte sich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, was aber nichts half, sondern Kevins Wut nur noch steigerte.
„Der blöde Stift is mir ausgrutscht wegen dem Handy. Der Strich da vorm Haus gehört weg.“
Rumpler warf einen vorsichtigen Blick auf das Blatt und sah ein typisches Kinderzeichnungs-Haus mit einem Tor in der Mitte, zwei Fenstern links und rechts davon und einem steilen Giebeldach, aus dessen Rauchfang korkenzieherartig gewundener Rauch aufstieg. Direkt vor dem Haus war ein kräftiger, annähernd senkrechter Strich, der dort ganz offensichtlich nicht hingehörte.
„Das ham wir gleich“, sagte der Vater plötzlich mit unerwarteter Zuversicht, „wir machen einfach einen Zaun draus.“
Während ihn Kevin ungläubig anstarrte, hatte der Vater neben den missratenen Strich eine ganze Reihe paralleler Striche gesetzt, die mit etwas Fantasie tatsächlich als Zaunlatten durchgehen konnten. Während Rumpler noch mit einem neuerlichen Wutausbruch Kevins rechnete, sagte er anerkennend: „Das mit dem Zaun habts ihr aber ganz toll hingekriegt.“
Kevin legte seinen Kopf schief, sah Rumpler für kurze Zeit prüfend an und sagte dann für diesen völlig überraschend: „Ich schenk dir die Zeichnung.“
Rumpler atmete auf, bedankte sich höflich und holte rasch, um das Geschenk entsprechend zu würdigen, einen alten leeren Fotorahmen aus seinem Schreibtisch und platzierte das Bild im Rahmen. Die nunmehr gerahmte Zeichnung stellte er auf seinen Schreibtisch.
„Jetzt kannst sie immer anschauen“, meinte Kevin zufrieden und wandte sich sofort einem neuen Thema zu, indem er seinem Vater klarmachte, dass es hoch an der Zeit wäre, den McDonalds, ganz so, als ob es nur einen einzigen gäbe, zu besuchen. Rumpler war weit davon entfernt, die Missachtung seiner liebevoll gerichteten Jause zu bedauern, und riet Kevin, einen extra großen Burger zu bestellen, was dieser auch gerne versprach. Vater und Sohn hatten es plötzlich mit ihrem Aufbruch sehr eilig und schon nach wenigen Minuten herrschte in Rumplers Wohnung wieder eine selige Ruhe.
Er atmete durch. Nachdem seine verstorbene Frau Elsa und er kinderlos geblieben waren, hatte er oft eine unbestimmte Sehnsucht nach Kindern, aber jetzt fragte er sich doch, ob ihm diese Kinderlosigkeit nicht vielleicht auch viel erspart hatte. Während er kurz überlegte, Kevins Zeichnung wieder von seinem Schreibtisch zu verbannen, erschien plötzlich, wie bei einem Zaubertrick, Rosamunde quasi aus der dünnen Luft, forderte vehement ihr Futter – und so blieb die Zeichnung, wo sie war.
*
4.
Am darauf folgenden Montagnachmittag saß Rumpler mit Ferdl und Leni in der Schwarzen Krot, einem Beisel, das diese Bezeichnung tatsächlich noch verdiente und auch Obdachlose als Gäste anstandslos akzeptierte, sofern sie auf ihre Sauberkeit achteten und nicht alkoholisiert waren. Auf Rumplers Einladung hin hatte Ferdl nur gemeint: „Bist halt wieder im Dienst, weils ned weiterkommen, deine Kollegen“, und hatte mit diesem Kommentar ziemlich ins Schwarze getroffen.
Ferdl hatte eine Blunzen mit Kraut und Erdäpfeln bestellt und Rumpler, der die einfache, aber grundsolide Küche der Schwarzen Krot kannte und schätzte, schloss sich an. Nachdem Alkohol für Ferdl ein absolutes Tabu war, verzichtete Rumpler mit leisem Bedauern auf den reschen Grünen Veltliner, der in der Krot als Hauswein ausgeschenkt wurde, und ließ sich einen großen Apfelsaft, gespritzt mit Leitungswasser, bringen. Für Leni hatte Rumpler bei der Köchin unter Einsatz seines ganzen Charmes und seiner braunen Augen einen ordentlichen Kalbsknochen herausverhandelt, den sie unter dem Tisch mit großem Behagen und dank ihres kräftigen Gebisses auch mühelos bearbeitete. Ferdl sah zufrieden auf seine Leni, während sie nur ganz kurz aufblickte, um dann umso kräftiger mit ihrem Werk fortzufahren. Als die Herren ihre respektablen Portionen schließlich fertig gegessen hatten, bestellte Rumpler noch Kaffee. Ferdl nahm ein großes Häferl mit Filterkaffee, Rumpler einen Espresso, wobei er wohl nicht zu Unrecht in der winzigen Schale das gleiche Gebräu vermutete, das Ferdl trank.
Dieser stellte sein Häferl ab. Jetzt war es Zeit zum Reden. „Was willst wissen, Hans?“
„Hast vielleicht von den drei, die umbracht worden sind, wen näher gekannt?“
„Am