„Vielleicht bist du eine Masochistin“, schlage ich vor. „Du brauchst einen guten Sadisten in deinem Leben.“
Das hat einen leicht angehobenen Kopf und einen höllisch bösen Blick zur Folge. Ich lache und zucke mit den Schultern. Wer weiß? In einer Million Jahren hätte ich nicht gedacht, eine Exhibitionistin zu sein, aber Naz schwört, dass ich eine sein könnte und ich leugne nicht, dass mich der Gedanke, beobachtet zu werden, erregt. „Hey, man weiß nie. Wir haben alle unsere Macken.“
„Ich bin eine Idiotin“, erwidert sie und ignoriert meinen Vorschlag. „Ich bin zu hundert Prozent ein verfluchter Vollpfosten. Es gibt keine andere Erklärung. Ich werde es nie lernen.“
Sie knallt ein paar Mal dramatisch den Kopf auf ihr brandneues Lehrbuch, bevor sie sich wieder aufsetzt. Sie hat einen weiteren Philosophiekurs belegt, mittlerweile ist es ihr vierter. Dieses Mal ist es Philosophie des Geistes, was immer das auch heißen mag. Ich weiß nicht einmal, was der Unterschied ist. Kommt denn nicht alle Philosophie aus dem Geist?
Sie hat jeden ihrer Kurse bestanden, wobei ihre Noten immer besser wurden. Doch das hält sie nicht davon ab, sich jedes Mal zu beklagen.
Und ich? Ich habe nach dem zweiten Kurs aufgegeben. Philosophie ist einfach nichts für mich.
Melody allerdings hatte die glorreiche Idee, es zu ihrem Hauptfach zu machen. Ein Abschluss in Philosophie – was macht man damit?
„Sei nicht so hart zu dir selbst“, sage ich. „Das sind doch alles nur Meinungen, weißt du noch?“
Das bringt mir einen weiteren düsteren Blick ein. Mann, heute habe ich es echt drauf.
„Wie auch immer“, sagt sie. „Das war’s. Ich tue mir das nicht mehr an. Jetzt ist meine Grenze überschritten.“
Sie zieht mit dem Finger eine Linie über den Tisch, ihre rot lackierten, künstlichen Fingernägel kratzen über die undefinierbare Oberfläche des Tisches.
„Ja, klar“, sage ich, strecke die Hand aus und nehme ihr das Lehrbuch weg. Sie protestiert und versucht, es sich zurückzuholen, steht auf, als wollte sie sich auf mich stürzen und mich wegen des verdammten Dings attackieren, doch ich schiebe sie weg und sehe mir das Buch an. Funktionalismus. Ich lese die Definition am Anfang des Kapitels zwei Mal, aber für mich ist das nur Kauderwelsch. „Oh Mann, ist das überhaupt unsere Muttersprache?“
Sie verdreht die Augen und versucht erneut, sich das Buch zurückzuholen, aber ich vereitle ihren Versuch und blättere durch die Seiten. Nach ein paar Kapiteln stoße ich auf einen Stapel Papier – Notizen. Ich will es ihr gerade wiedergeben, um ihr chaotisches Ordnungssystem nicht durcheinanderzubringen, als mein Blick auf das oberste Blatt Papier fällt. Darauf befindet sich eine Ansammlung von Definitionen und an den Rand gekritzelter Notizen, aber ganz oben und mittig ist der Name eines Jungen in ein schiefes Herz gekrakelt.
Leo.
„Leo?“, quietsche ich. Ja, ich quietsche tatsächlich. „Wer zum Teufel ist Leo?“
Die Worte sind kaum heraus, da reißt sie mir das Buch aus den Händen, klappt es zu und schiebt es in ihren Rucksack, als ob sie von Anfang an nicht hätte lernen müssen. Scheiß auf Funktionalismus.
Ich starre sie ungläubig an. Die Röte steigt ihr in die Wangen, bis sie zu glühen scheinen. Sie wird rot. Die selbstbewusste, kontrollierte Melody Carmichael wird rot. Heilige Scheiße.
„Wer ist er?“, frage ich. „Mein Gott, Melody, du spuckst es besser schnell aus, sonst denke ich noch, dass du was für DiCaprio übrig hast.“
Sie zuckt mit den Schultern. „Der ist nicht so übel.“
„Nein, nein. Nicht der DiCaprio aus Titanic. Nicht der aus Romeo und Julia. Nicht mal der DiCaprio aus Wolf of Wall Street. Ich rede von dem echten DiCaprio. Dem DiCaprio auf seiner Jacht. Dem DiCaprio mit Vollbart.“
Melody macht ein entsetztes Gesicht und erschaudert. „Auf keinen Fall.“
Ich hebe eine Braue. „Stehst du auf gealterte Körper?“
Lachend wirft sie mit einer zusammengeknüllten Serviette nach mir. „Oh Gott, halt die Klappe.“
„Wer ist er?“, frage ich, schnappe die Serviette und werfe sie zurück. „Erzähl’s mir.“
„Okay, okay!“ Sie hebt die Hände. „Er ist nur … eigentlich ist er niemand.“
„Niemand? Du malst Herzchen um seinen Namen und er ist niemand?“
„Er ist nur ein Typ, den ich kennengelernt habe. Wir haben ein paar Mal Kaffee miteinander getrunken.“
„Kaffee?“ Ich keuche und greife mir mit gespieltem Entsetzen an die Brust. „Aber Kaffee ist doch unser Ding!“
Sie errötet wieder. Ich bin absolut verblüfft. Erst verdreht Naz die Augen und jetzt wird Melody rot. Ich bin gestern in der Twilight Zone aufgewacht und weiß nicht, wie zur Hölle ich wieder herauskommen soll. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt will.
„Es ist nichts Ernstes oder so“, erklärt sie. „Ich weiß nicht mal, ob er das wollen würde.“
„Aber du hoffst es.“
„Aber ich hoffe es“, sagt sie, seufzt, stützt die Ellbogen auf dem Tisch ab und lächelt glückselig. „Er ist einfach … wow. Er ist auf jede Weise perfekt. Absolut perfekt.“
Oh, oh. Das habe ich schon mal gehört. Und zwar über Paul.
„Perfektion ist nicht real“, betone ich.
„Ich bitte dich“, sagt sie und macht eine wegwerfende Handbewegung. „Du hast Perfektion geheiratet, oder etwa nicht?“
Mir entschlüpft ein hartes Lachen. „Wohl kaum. Naz ist … er ist fantastisch. Naz ist das, was ich vom Leben will. Aber perfekt? Nein, das ist er auf keinen Fall.“
Ich bin sicher, dass er mir da zustimmen würde.
„Aber er ist perfekt für dich. Ihr beiden seid, du weißt schon …“ Sie wedelt mit der Hand in meine Richtung, als würde das alles erklären. „Mit den Worten von Meredith Grey, ihr seid düster und verdreht, okay? Er ist so intensiv, und du bist so komplex, und ihr seid einfach seltsam, okay? Ihr beide. Aber ihr seid auf eine gute Weise seltsam. Du weißt schon … ihr seid gemeinsam seltsam. Manchmal erschreckt er mich zu Tode, und manchmal verwirrst du mich total, doch zusammen … ergebt ihr beide einfach Sinn.“
Ich starre sie bei diesem Gebrabbel nur an. „Wir ergeben Sinn.“
„Das tut ihr“, sagt sie. „Und Leo … ich habe keine Ahnung, wie ich das erklären soll. Er gibt mir das Gefühl, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt, als ob in dem Moment nichts außer mir wichtig wäre. Er hört mir zu, hört mir wirklich zu. Das ist verrückt, ich weiß, denn nach der Sache mit Paul hätte ich nie gedacht, je wieder so fühlen zu können. Aber es ist so.“ Sie seufzt. „Es ist so.“
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Natürlich freue ich mich für sie, mache mir aber gleichzeitig Sorgen. Paul war der erste Mann, mit dem sie eine Weile zusammen war, und wir alle wissen, wie das ausgegangen ist. Zumindest ich weiß, wie es ausgegangen ist.
Für die meisten wird er einfach nur vermisst, ist wie vom Erdboden verschwunden. Man hofft immer noch, dass er eines Tages zurückkommt.
Ich weiß es besser. Das war eine dieser ich-könnte-mir-in-den-Hintern-beißen Fragen, die ich Naz gestellt habe.
„Das ist toll“, sagte ich und meine es zum größten Teil auch so. Ich bin froh, dass sie endlich mit ihrem Leben weitermacht. „Wann lerne ich den Glücklichen kennen?“
„Äh, ich weiß