Als er den Tod nahen fühlte, hatte Franz Bachmann nach ihm gerufen. Zu Lebzeiten war der knorrige Alte nie ein eifriger Kirchgänger gewesen, doch das hatte den Seelsorger nicht davon abgehalten, immer wieder mal den Kontakt mit dem Bauern zu suchen, und manchmal glaubte er, so etwas wie Dankbarkeit für die Besuche in den Augen Franz Bachmanns zu sehen.
Wohl nicht zuletzt wegen dieser Beziehung, die sich im Laufe der Jahre zwischen ihnen entwickelte, hatte Franz Sebastian gebeten, seinen letzten Willen zu erfüllen.
»Es gibt da noch etwas, was ich beichten muß«, hatte der Alte mit schwacher Stimme gesagt.
Mit zitternder Hand deutete er auf eine Kommode, die in seinem Schlafzimmer stand.
»In der obersten Schublade, da liegt ein Brief«, fuhr der Sterbende fort. »Er ist für meine Schwester… Ich, ich hab’ ihn nie abgeschickt. Net, weil ich net wüßt’, wo sie lebt, sondern weil ich mich geschämt hab’ für das, was ich getan hab’…«
Sebastian Trenker hatte den Brief aus der Schublade genommen.
»Ich hab’ gar net gewußt, daß du eine Schwester hast.«
»Ist auch net meine richtige«, antwortete Franz.
Der Geistliche merkte, wie schwer ihm das Sprechen fiel. Er setzte sich an das Bett des Bauern und sah ihn an.
»Möchtest es mir erzählen?«
Der Alte nickte und bat um einen Schluck Wasser.
»Es ist schon lang’ her«, erzählte er anschließend. »Meine Mutter war eine verwitwete Hochberg. Sie hatte als junges Madel auf den Hof eingeheiratet. Kurz nachdem sie eine Tochter gebar, verunglückte ihr Mann tödlich. Als Witwe mit einem Kind konnte sie den Hof net allein führen und heiratete nach dem Trauerjahr den Knecht Joseph Bachmann, meinen Vater.«
»Dann ist die Vroni deine Halbschwester.«
Der Bauer nickte.
»Und was hast’ ihr angetan, daß dich so schämst?«
Franz Bachmann japste nach Luft. Seine Hände fuhren in der Luft umher, als wolle er etwas greifen, das er nicht halten konnte. Offenbar war er sehr aufgeregt und merkte nicht mehr, daß der Geistliche den Brief schon herausgenommen hatte.
»Ich… ich hab’s aufgeschrieben, Hochwürden«, sagte der Alte. »Sie finden alles… alles in der Schublade.«
Dr. Wiesinger betrat das Krankenzimmer, und Sebastian bereitete alles für den letzten Segen vor.
Franz Bachmann schaute voller Dankbarkeit auf das Kruzifix, und alle Angst war aus seinem Gesicht gewichen.
Immer wieder, wenn er sich in diesen Tagen daran erinnerte, sah der Seelsorger diesen dankbaren und friedlichen Ausdruck vor sich.
Es bedurfte schon einiger Recherchen, um herauszufinden, daß Veronika Thorwald, geborene Hochberg, in der Nähe von München verstorben war. Sebastian fuhr selber dorthin und besuchte das Grab auf dem Kirchhof. Neben ihrem Mann war Franz Bachmanns Halbschwester beigesetzt worden. Dabei fiel ihm auf, wie gepflegt die letzte Ruhestätte der Eheleute Thorwald war, und es stellte sich ihm natürlich die Frage nach den Angehörigen. Sebastian erfuhr von der Verwaltung, daß eine Gärtnerei damit beauftragt war, das Grab zu pflegen. Als er dort vorsprach, wollte man ihm keine Auskunft geben. Als er dann darauf zu sprechen kam, worum es ihm ging, erfuhr er, daß der Auftrag für die Grabpflege aus den Vereinigten Staaten käme, und einen Namen: Felix Thorwald.
Der gute Hirte von St. Johann hatte Verständnis dafür, daß man ihm aus Datenschutzgründen nicht mehr mitteilen wollte, und der Hinweis auf Amerika reichte ihm. Noch am selben Tag setzte er sich mit dem Auswärtigen Amt in Berlin in Verbindung und brachte sein Anliegen vor. Man versprach ihm, sich um die Angelegenheiten zu kümmern und die deutsche Botschaft in Amerika anzuweisen, nach einem Felix Thorwald zu suchen und ihn dann über die Erbschaft genau in Kenntnis zu setzen.
Das war vor gut vier Wochen gewesen. Seither hatte Sebastian nichts mehr in der Angelegenheit gehört.
Der Bergpfarrer horchte auf, als er die Haustür gehen hörte. Er schaute auf die Uhr.
War es wirklich schon wieder Mittagszeit geworden?
Tatsächlich. Es klopfte an der Tür, und sein jüngerer Bruder steckte seinen Kopf herein.
»Grüß dich, Max.« Sebastian nickte ihm zu.
Der Polizeibeamte trat ein.
»Wenn ich das so seh’, dann bekomm’ ich einen Schreck«, meinte er mit Blick auf den Schreibtisch. »Bei mir stapeln sich auch die Akten.«
»Na ja, zum Glück bin ich damit durch«, seufzte Pfarrer Trenker. »Jetzt kann ich mich wieder and’ren Dingen widmen. In uns’ren Berufen geht’s wohl net anders, daß ab und an auch wichtige Arbeit liegenbleibt.«
Er klopfte auf den Ordner.
»Außerdem beschäftigt das hier mich ganz besonders.«
Max Trenker wußte natürlich, wovon sein Bruder sprach. Oft hatten sie in den letzten Tagen zusammen gesessen und überlegt, wie es auf dem Hochberghof wohl weitergehen mochte.
»Hat sich noch niemand gemeldet?« fragte er.
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Uns bleibt nix and’res übrig, als Geduld zu haben«, meinte er. »Was für uns natürlich einfacher ist als für die Maria und den Florian.«
Max erhob sich.
»Das Essen ist übrigens fertig«, sagte er. »Frau Tappert hat schon aufgetragen.«
In der Pfarrkirche duftete es nach geschmortem Kraut und Fleischpflanzerl. In der Woche wurde immer an dem großen Tisch gegessen, nur wenn Gäste kamen, deckte die Haushälterin im Eßzimmer.
»Um die Maria mach ich mir indes weniger Gedanken«, nahm der Geistliche das Gespräch wieder auf. »Aber was mit dem Florian geschieht, wenn Felix Thorwald das Erbe ausschlägt oder den Hof verkauft, daran mag ich gar net denken.«
»Was würd’ denn gescheh’n, wenn er’s Erbe net antritt?« wollte Max wissen.
»Dann fällt’s dem Land Bayern zu«, antwortete sein Bruder. »Und das wird den heruntergekommenen Hof kaum weiter betreiben. Wahrscheinlich wird man versuchen, ihn meistbietend zu versteigern.«
»Wahrlich keine besonders rosigen Aussichten«, meinte der junge Polizist.
*
»Daß Sie mir ja wiederkommen und nicht in diesem Sankt Johann bleiben!« hatte George Barker gesagt. »Auf einen meiner besten Mitarbeiter will ich nur ungern verzichten.«
»Keine Angst, Boss«, erwiderte Felix lächelnd, »ich will mir das erst einmal ansehen, bevor ich eine Entscheidung treffe. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
George Barker, Gründer und Inhaber der Firma, die Programme für Computer erstellte, nickte.
»Natürlich, Felix, dafür habe ich Verständnis. Außerdem waren Sie ja lange nicht in der Heimat. Sie wollen natürlich auch das Grab Ihrer Eltern besuchen. Machen Sie es gut.«
Über London und Frankfurt ging es nach München. Als Felix auf dem Franz-Josef-Strauß-Flughafen aus dem Flieger stieg, lagen fünfzehn Stunden hinter ihm, seit er am Abend zuvor in New York losgeflogen war.
Von dort aus hatte er einen Leihwagen reserviert. Er erledigte die Formalitäten am Schalter der Verleihfirma direkt am Flughafen, und die freundliche Angestellte brachte ihn zu dem Auto.
»Gute Fahrt, Herr Thorwald«, wünschte die junge Frau und sah ihm mit einem bedauernden Blick hinterher.
Wirklich schade, dachte sie, die attraktivsten Männer bleiben doch nie!
Davon