»Ja, richtig«, nickte Max. »Jetzt erinner’ ich mich. Das war doch eine ganz schlimme Sache.«
Er schaute vor sich hin. Der Bruder des Bergpfarrers und Michael Lindner hatten sich irgendwann einmal kennengelernt, als Michael, damals noch ein junger Bursche, erst mit den Eltern, später, als die Mutter verstorben war, mit dem Vater, immer in St. Johann Urlaub gemacht hatte. Schnell freundeten die beiden sich an und erlebten so manche Gaudi miteinander. Dann, eines Tages, riß der Kontakt ab. Michael kam nicht mehr mit und ließ auch nichts mehr von sich hören.
»Wann kommt er denn an?«
»Morgen schon«, antwortete Sebastian. »Er hat mich heut’ morgen angerufen. Ursprünglich wollt’ er in der Pension Stubler wohnen, aber ich hab’ ihm gesagt, daß das überhaupt net in Frage kommt. Natürlich werden die zwei uns’re Gäste sein. Ich komm’ gerad’ von der Ria und hab’ das mit ihr geklärt. Stell’ dir vor, die Ria war heilfroh, daß Michael das Zimmer net braucht – sie hat nämlich eine Überbelegung und fragte sich schon händeringend, wo sie ein weiteres Zimmer herbekommt.«
Max Trenker sah seinen Bruder nachdenklich an.
»Daß du dich auch auf den Besuch freust, ist mir schon klar«, meinte er. »Aber wie ich dich kenn’, steckt doch noch was and’res dahinter, daß du Michael hier im Pfarrhaus unterbringst...«
Sebastian schmunzelte.
»Wie du schon sagst – du kennst mich halt...«
*
Michael Lindner lenkte den Wagen auf den Parkplatz. Er half Lena beim Aussteigen und nahm den Rosenstrauß. Das Madel hielt seine Blumen fest und griff nach der Hand des Vaters.
Michael fühlte, wie sein Herz klopfte. Immer wenn er das schmiedeeiserne Tor durchschritt, überkam ihn dieses beklemmende Gefühl. Lena hingegen hüpfte unbekümmert an seiner Seite.
Sie durchquerten die Wege und blieben vor einem Grab stehen, das unter einer großen Ulme lag. Am Kopfende stand ein Stein mit dem Namen der Verstorbenen, darüber ein goldgefaßter, ovaler Rahmen mit dem Bild einer wunderschönen, jungen Frau. Die blonden Haare fielen bis auf die Schulter, und das bezaubernde Lächeln übte immer noch seine Faszination auf den Betrachter aus.
Mein Gott, was für eine schöne Frau, dachte Michael und bemühte sich, in der Gegenwart seiner Tochter nicht zu weinen. Auch jetzt noch, vier Jahre nach Claras Tod, brach es ihm das Herz, wenn er an den Moment dachte, in dem der Arzt im Krankenhaus ihn mit der grausamen Wahrheit konfrontierte.
Eine kurze Zeitspanne war ihnen nur vergönnt geblieben, ein paar Jahre, in denen sie glücklich gewesen waren und das Leben in vollen Zügen genossen hatten. Bis zu jenem Tag, der sich unauslöschlich in Michaels Gehirn eingebrannt hatte.
Lenas Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.
»Guten Tag, Mami«, sagte die Kleine. »Schau’, ich hab’ dir auch Blumen mitgebracht, net nur der Papa.«
Sie nahm eine kleine Vase und stellte den Strauß hinein. Währenddessen plapperte sie munter weiter.
»Eigentlich hab’ ich sie ja geschenkt bekommen«, erzählte sie. »Aber, weißt’, morgen fahren der Papi und ich in die Berge, und wenn die Blumen so lang’ daheim bleiben, dann sind’s schon verblüht, wenn wir zurückkommen.«
Lena drehte sich zu ihrem Vater und schaute ihn fragend an.
»Glaubst’, daß die Mama sich darüber freut?«
Michael hatte sich zu ihr hinuntergebückt und drückte sie an sich.
»Ganz bestimmt, Spatzl«, sagte er leise.
Irgendwann hatte Lena ihn gefragt, warum Johanna, das Madel aus dem Nachbarhaus, mit dem sie immer spielte, eine Mama habe, und sie nicht. Er hatte lange nach den richtigen Worten gesucht und ihr dann einfühlsam erzählte, daß sie natürlich auch eine habe, wie jeder Mensch. Ihre Mama aber war jetzt im Himmel, schaute jeden Tag auf sie herab und beschütze ihre kleine Tochter.
Es hatte noch vieler solcher Gespräche bedurft, ehe Lena verstand, daß ihre Mama für immer beim lieben Gott bleiben würde. Es mußte wohl ihr wacher Verstand sein, daß sie es trotz ihres Alters – sie war gerade erst drei gewesen, als sie die Frage nach der Mutter stellte –, nach und nach begriff.
Michael hatte seinen Blumenstrauß ebenfalls in eine Vase gestellt. Gemeinsam holten sie Wasser vom Brunnen und füllten es in die Gefäße. Dann sprachen sie ein Gebet und gingen langsam wieder zum Auto zurück. Der Witwer war dankbar, daß das Kind mit seiner überschwenglichen Fröhlichkeit die Trauer des Augenblicks im Nu fortwischte. Dafür war in den Stunden Platz, in denen er zu Hause saß, spät am Abend oder in der Nacht, wenn er, wie so oft, keinen Schlaf fand und immer wieder die alten Fotos hervorholte.
»Was gibt’s denn zu essen?« erkundigte die Kleine sich, als sie auf dem Nachhauseweg waren.
»Wie wär’s mit Nudeln und Tomatensauce?«
»Prima, Nudeln sind mein Lieblingsessen.«
Michael lachte innerlich. Das behauptete sie nämlich von allem, was er vorschlug. Hätte er jetzt Pizza gesagt, wäre sie darüber in einen Freudenschrei ausgebrochen.
Im Flur der Vierzimmerwohnung stapelten sich schon Koffer und Reisetaschen. Während er Lena ermahnte, die letzten Sachen, die sie mitnehmen wollte, zusammenzusuchen, machte Michael sich daran, das Wasser für die Nudeln aufzusetzen. Seit er mit der Tochter alleine war, hatte er sich zu einem wahren Meisterkoch entwickelt – zumindest, was die Gerichte anging, die Kinder gerne mochten: Natürlich Nudeln, Pfannkuchen, Pizza, aber auch Fleischpflanzerl, und im Milchreiskochen war er unschlagbar.
Die Gute-Nacht-Geschichte fiel heute kürzer aus, als sonst. Aber sie wollten morgen in aller Herrgottsfrühe aufbrechen, und tatsächlich sah Lena ein, daß sie schlafen mußte. Michael hatte gerade das Licht in ihrem Zimmer gelöscht, als es an der Wohnungstür klingelte.
Wer mochte das sein?
Als er öffnete, stand Gernot Ender vor ihm.
»Ich wollt’ euch doch noch einen schönen Urlaub wünschen«, sagte der Freund und Nachbar. »Darf ich einen Moment hereinkommen?«
»Natürlich«, nickte Michael und sah in den Hausflur. »Hast’ deine Frau net mitgebracht?«
»Nee, die Johanna hat heut’ abend über Bauchweh geklagt. Da wollt’ Iris lieber drüben bleiben.«
»Setz’ dich doch schon mal ins Wohnzimmer. Magst’ ein Bier?«
Gernot winkte ab.
»Dank’ schön, ich will ja auch net lang’ bleiben.«
Michael schaute noch einmal nach Lena. Das Klingeln hatte sie nicht wieder aufgeweckt. Sanft und selig schlief sie in ihrem Bettchen, umgeben von all ihren Lieblingsplüschtieren.
Wie wunderschön sie ist, dachte der stolze Vater. Und wie ähnlich sie ihrer Mama sieht!
»Du willst also wirklich nach Sankt Johann fahren?« fragte Gernot, als er wenig später neben ihm im Wohnzimmer saß.
Iris und Gernot Ender waren vor fünf Jahren Trauzeugen gewesen, als Clara und Michael geheiratet hatten. Die beiden Männer kannten sich von der Universität, und seit jener Zeit verband sie eine enge Freundschaft. Gernot kannte auch die Details der Auseinandersetzung zwischen Michael und dessen Vater. Deshalb hatte er diese Frage gestellt.
Der junge Witwer atmete schwer.
»Ich verbind’ mit diesem Urlaub auch die Hoffnung, daß’s sich mit Vater wieder einrenkt«, sagte er. »Es kann ja kein Dauerzustand sein. Fünf Jahre reden wir net mehr miteinander. Jetzt muß endlich Schluß sein, mit dem Streit. Auch wegen Lena. Wenn sie schon keine Mutter hat, dann soll s’ wenigstens einen Großvater haben.«
»Und wie willst’ das anstellen?«
Der