Ein Großneffe, der eher kleinwüchsig als hoch gewachsen war, hob die Hand:
»Wir werden der Welt beweisen, dass wir nicht so sind, wie dieser dumme Autor aus Anglia uns beschrieben hat. Wir wissen doch, dass wir keine Nachtwesen sind, und wir wissen auch, dass wir das Blut der anderen nicht als Nahrung brauchen, sondern zur Auffrischung unseres Blutes. Wohlan, ich stehe bereit, für diese Blutreinigung zu sorgen. Quellen für den Nachschub stehen im Waldgebiet in ausreichendem Maße zur Verfügung. Wer von der Familie macht mit?«
Und alsbald reckten sich zahlreiche Arme empor, gleich ob männliche oder weibliche Clanmitglieder, alle wollten dabei sein. Endlich geschah etwas, an dem sie alle teilnehmen konnten. Außerdem: es lockte das Blut, frisches Blut. Daran wollten alle teilhaben.
Angesicht dieser Zustimmung, die wie eine Order aussah, konnte Fürst Georghiu nur noch zustimmen. Den illegalen Holzfällern sollte das Fürchten gelehrt werden.
*
Xenia und Arpad hatten den Tag auf der »Danubia Queen« verbracht. Auch wenn der Erste Steuermann dienstlich gebunden war, blieb doch genug Zeit, immer wieder nach »seinem Mädchen«, wie er es nannte, zu sehen. Obwohl die meisten Schiffsgäste in der österreichischen Hauptstadt unterwegs waren, gab es für den an Bord gebliebenen kleinen Rest dennoch ein Mittagessen, sogar ein sehr delikates. Nämlich ein original ungarisches Gulasch mit einer so sämigen Soße, dass Xenia nicht widerstehen konnte und sich beim Steward eine extra große Portion davon erbat, die sie zusammen mit einem kleinen Stückchen Brot mit dem Suppenlöffel genoss. Es war einfach wunderbar, und als Arpad sie danach an Deck und unter dem Sonnensegel zu einem großen Eis einlud, da war sie danach so satt, dass sie trotz der Hitze einschlief.
Als Angelika und Jonny wieder von ihrem Ausflug zurückkamen, fanden sie die beiden eng aneinander gelehnt in der Bibliothek, wo sie eine große Faltkarte mit dem gesamten Lauf der Donau studierten.
»Wollt ihr euch hier irgendwo niederlassen an der schönen blauen Donau?« fragte Angelika in Anlehnung an den berühmten Walzer.
»Nein, nein«, wehrte Xenia hastig ab, doch schien ihre Freundin sie doch etwas besser zu kennen, denn mit Genugtuung beobachtete sie, dass sich Xenias Gesicht dabei mit einer sanften Röte überzog. Sieh da, dachte sie, da ist doch etwas im Busch. Es würde sich lohnen, das weiter zu verfolgen.
Als das Kreuzfahrtschiff ablegte, die nächste Haltestation am kommenden Nachmittag war Bratislava, früher Preßburg, heute die Hauptstadt der Slowakei, war die Hitze soweit zurückgegangen, dass der Kapitän spontan verkündete, es würde ein Grillfest geben, während die »Danubia Queen« in die Dämmerung und die Nacht hineinfuhr.
An sich hatte Angelika Frau Faszl bitten wollen, sie über die wichtigsten Themen des zweiten Teils von Dr. Beutelers Vortrag zu informieren, doch über den Köstlichkeiten, die in fester und flüssiger Form serviert wurden, vergaß sie ihr Vorhaben.
Sie konnte eigentlich nur zustimmen, als neben ihr Frau Hannelore Fischbaum, die 65-jährige Rentnerin aus Remscheid, ihren Teller zurückschob und laut lostrompetete: »Also, jeden Tag kann ich das nicht! Ich fürchte, allein heute Abend habe ich mindestens drei Kilo zugenommen. Wenn es Vampire geben würde, diese Hirngespinste, dann würden sie heute auf diesem Schiff reiche Beute finden. Alle Passagiere liegen faul in ihren Betten, können sich mit ihren vollgefressenen Ranzen nicht bewegen und das Blut pulsiert wild durch die Adern. Aufgefrischt durch dieses Essen, das verboten gut geschmeckt hat.«
Wie Frau Fischbaum ging es ziemlich allen auf dem Schiff. Nur die Besatzungsmitglieder hatten sich zurückhalten müssen, sie bekamen ihre eigene Verpflegung. Und bedienen hatten sie auch noch müssen. Da hatten die Kalorien keine so große Chance, sich in Form von Speck auf die Hüften zu setzen.
Und dann war da noch einer, der Frau Fischbaums Ausruf mitbekommen und daraufhin beschlossen hatte, dass sie die erste sein sollte. Die erste unter mehreren Opfern im Verlauf der Reise. Wer sich so ungläubig zeigte und gleichzeitig so unverschämte Reden führte, dem durfte sich nicht wundern, wenn ihm das Gegenteil bewiesen wurde.
Es wurde Zeit für ihn. Jemand, der die Existenz der Vampire so vehement leugnete, war mit Sicherheit ein geeigneter Kandidat für die erste Blutmahlzeit auf dieser Fahrt.
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Inge Faszl hatte das Grillfest an Bord nur so nebenbei zur Kenntnis genommen. Sie hatte sich etwas abseits unter einen Baldachin gesetzt, der wie geschaffen schien, hier den Abend zu genießen. Eine nette Stewardess, eine etwa 23-jährige Bulgarin mit einem so zierlichen Mädchenkörper, dass man sie glatt für eine pubertierende Jugendliche hätte halten können, wenn – ja, wenn da nicht ihr Gesicht gewesen wäre, in dem die Gräfin Faszl alles Leid des Balkans zu sehen glaubte.
Gegen Ende des Festes, als die Gäste müde herumsaßen, bat sie Petra, sich doch zu ihr zu setzen. Diese sträubte sich zunächst, da es dem Personal nicht erlaubt war, sich den Passagieren anzubiedern. Woraufhin Inge Faszl den Kapitän in der Menge suchte und auch fand und bei ihm eine Sondererlaubnis erwirkte.
Petra bestand darauf, den Kapitän selber zu fragen, ehe sie es sich erlaubte, neben der 80-jährigen aus Deutschland Platz zu nehmen. Jetzt erst akzeptierte sie auch den Apfelsaft und ein Sandwich, das Frau Faszl für sie hatte kommen lassen.
»Sie haben einen ganz entzückenden Akzent«, sagte die Deutsche. »Das klingt so gar nicht bulgarisch, zumindest in meinen Ohren.«
Petra errötete, sah sich vorsichtig um und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Sie haben ein wirklich gutes Gehör. Ich bin hier als Bulgarin, weil die Reederei nur Bulgaren einstellt, aber in Wahrheit bin ich Rumänin. Das darf niemand wissen, mein Pass ist falsch.«
»Als erstes gibt es jetzt etwas zu essen und zu trinken, für Nachschub kann ich sorgen«, sagte Frau Faszl und legte ihre Rechte auf die Schulter der jungen Frau, die anscheinend rätselte, was jene wirklich von ihr wollte.
Während Petra in das Sandwich biss, erkundigte sich die Gräfin zunächst nach der Familie, die – wie sie erfuhr – im transsilvanischen Dragovac wohnte und unter erbärmlichen Bedingungen leben musste. Es gab zu wenig Arbeit, und wenn es welche gab, dann war sie miserabel bezahlt. Denn die Fürstenfamilie schöpfte alles an Geld ab, was möglich war, um ihren im Vergleich aufwendigen Lebensstil zu finanzieren.
Petra war gehemmt, es war ihr anzusehen, dass es Dinge gab, über die sie nicht gerne sprach. Doch so viel erfuhr Inge Faszl, dass ein Geheimnis die Fürstenfamilie umgab. Petras Großmutter, Gott habe sie selig, habe immer davon gesprochen, dass die ganze Familie oben auf dem Schloss, dieser hemmungslose Clan, verflucht sei zu einem Leben in Verdammnis. Eine Verdammnis, die sie schon hier ereilte, auf die normale Menschen lieber nicht warteten, sondern in der Hoffnung lebten, ihr nach dem Ableben zu entgehen.
»Auf dem Friedhof des Schlosses, der den Dorfbewohnern von Dragovac verwehrt ist«, erzählte Petra, während sie den letzten Bissen des Sandwiches genüsslich kaute. »Auf diesem Friedhof soll es eine Grabstätte geben mit einem Gedenkstein, auf dem geschrieben steht: »Wenn dein Blut trocknet, ist dein Bett hier«. So hat es mir meine Großmutter erzählt, als ich zwölf Jahre alt war. Sie war einmal, nur einmal, auf dem Schloss und konnte den Friedhof besichtigen. Was damit gemeint ist, weiß ich allerdings nicht, sie konnte es mir nämlich auch nicht erklären.«
Nun hatte Frau Faszl etwas, worüber nachzusinnen sich lohnte. Wobei es auf diesem Schiff, wenn sie ehrlich war, genügend Ereignisse und Personen gab, über die sie nachdenklich stimmten.
Als Petra sich mit mehrmaligem ‚Danke, danke‘ verabschiedete, blieb eine nachdenkliche alte Dame zurück. Sie erinnerte sich mit einem Mal an ihre Jugend und an ihr früheres Leben in … Sie verscheuchte flugs diese Gedanken. Es würde genügend Gelegenheit geben, darüber mit ihren Tischnachbarn zu sprechen, davon war sie überzeugt.
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Angelika und Jonny waren auch nach Ausklang des Grillabends noch beisammen gesessen und hatten, abgesehen vom Zweite Steuermann,