Schnell ging ich auf ihn zu, bevor mir wieder jemand dazwischenkam: »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken und muss mich auch gleich schon wieder verabschieden. Ihre Bilder gefallen mir sehr. Ich finde sie aussergewöhnlich«, fügte ich noch schnell dazu, um mein eher einfallslos wirkendes Kompliment zu ergänzen. Fabiano del Chiero freute sich über mein Kompliment, war höflich und versuchte gleich, mich charmant in ein Gespräch zu verwickeln. Da er nicht besonders gut Deutsch sprach, verlief das Gespräch anfänglich etwas holperig.
Glücklicherweise kam genau in diesem Moment Gina zurück und wandte sich zu mir: »Du bleibst doch hoffentlich zum Essen da?« Gerade wollte ich dankend ablehnen, da sagte der Maler: »Ja, natürlich bleibt sie.«
»Ach ja?« Verblüfft lächelte ich ihn an. Normalerweise war ich es gewohnt, meine Entscheidungen selbst zu treffen, aber seine Antwort hatte mich unvermutet so überrascht, dass ich ohne jeglichen Einwand nachgab. »Na gut, Alexanders hervorragenden Kochkünste kann ich mir auf keinen Fall entgehen lassen«, bemerkte ich augenzwinkernd zu Gina.
Fabiano del Chiero nahm mich wie selbstverständlich am Arm und führte mich in den neu angebauten „Glaswürfel“. In diesem Glaswürfel war jetzt auch der Flügel platziert - früher hatte er in dem hinteren Raum im alten Gebäude gestanden, in dem ich den Maler begrüßt hatte. Fabiano del Chiero fragte mich, ob ich mich neben ihn setzen wolle. Er duzte mich gleich. »Ja gerne«, stimmte ich zu. Es nahmen noch andere Gäste Platz. Es war eine kleine illustre Gesellschaft. In diesem Raum hingen mehrere Bilder des Malers: ein Bild von einem Mädchen, das auf einem Trapez saß, und noch zwei weitere Bilder, die mit dem Thema Zirkus zu tun hatten: eine sehr dicke Frau, die Feuer spuckte; auf dem dritten Bild sah man einen Jongleur, der neben einem Pferd ging.
Mir gegenüber saß eine blonde Frau mittleren Alters, die sehr apart und elegant gekleidet war. Sie stellte Fabiano del Chiero eine besonders eigenartige Frage. Es war eine dieser typischen Fragen, die man gerne Künstler über deren Inspiration und Schaffenskraft stellt. In Anbetracht der Schlichtheit der Frage – oder waren es doch eher seine holprigen Sprachkenntnisse? – stocherte Herr del Chiero ausgiebig in seinen Nudeln. Es waren köstlich gefüllte, handgemachte Nudelteigtaschen! Er kramte in seinem anscheinend etwas kargen Wortschatz nach einer passenden Antwort, die er aber auch nach höflichem Abwarten meinerseits nicht fand. Impulsiv und spontan ergriff ich beherzt das Wort und beantwortete ihre Frage an seiner Stelle. Ich hielt einen kleinen Monolog und erklärte ausführlich, wie der kreative Prozess funktioniert. Jedenfalls, wie er bei mir abläuft.
Ich spürte, wie Fabiano del Chiero mir äußerst aufmerksam zuhörte und innerlich bei jedem Wort nickte. Seine wortlose Bestätigung elektrisierte mich. In seiner etwas unbeholfenen Art, Deutsch zu sprechen, ergänzte er nur noch ein paar winzige Details. Der Bann zwischen uns war gebrochen!
Während meines Monologes musste er bemerkt haben, dass auch ich etwas von dem schöpferischen Prozedere verstand, und fragte mich neugierig: »Woher weißt du das? Malst du auch?« Ich antwortete ihm: »Ja, ich komponiere und male auch. Letzteres zwar eher hobbymäßig, aber somit bin ich mit dem schöpferischen Vorgang durchaus vertraut«, und lächelte ihn an. Daraufhin schenkte er mir sein Buch mit einer persönlichen Widmung und ich versprach, ihm meines zu schicken.
Sofort nutzte Gina die Gelegenheit und forderte mich auf: »Spiel doch bitte ein Stück aus deinem Buch.«
Ohne lange zu überlegen, setzte ich mich an den Flügel und begann, ein Lieblingsstück aus meinem Album zu spielen. Inständig hoffte ich, mich noch an alle Noten erinnern zu können. Immerhin waren schon fast zwei Jahre vergangen, seitdem es veröffentlicht worden war. Ich begann zu spielen und tauchte ein in meine Komposition. Doch plötzlich – wie aus heiterem Himmel, mitten im Stück – wusste ich nicht mehr weiter. Das durfte doch nicht wahr sein! Ich hatte einen totalen Blackout! Ich wünschte mir, der Erdboden täte sich auf, um mich auf Nimmerwiedersehen zu verschlingen. Doch unter meinen Füßen geschah nichts. Welch ein Malheur! Ich musste überlegen, improvisierte verzweifelt und dann – Gott sei Dank, er erhörte doch mein Stoßgebet – fiel mir meine Komposition wieder ein.
Nachdem ich also viel länger blieb, als ich ursprünglich vorgehabt hatte, fuhr ich wieder nach Hause – nicht ohne die Telefonnummer und das Buch von Fabiano del Chiero in der Tasche.
°°°
Anfang November rief mich Fabiano an. »Ich wollte mich für das schöne Buch bedanken, welches du mir geschickt hast.« Er hatte eine warme und etwas raue Stimme. Sein Deutsch hörte sich immer lustig an. Ich musste einige Male nachfragen, weil ich ihn so schlecht verstand. Bei dieser Gelegenheit erzählte ich ihm von meinem Herzensprojekt, einem großen Musiktheater, an welchem ich schon seit vielen Jahren arbeitete. Er wirkte sehr interessiert und wollte unbedingt mehr darüber wissen. Also verabredeten wir uns für den 4. Januar, um uns über unsere Projekte auszutauschen. Wir vereinbarten ein Treffen in München im Literatur-Café.
4. Januar
Ich hatte ein selbst entworfenes kurzes Kleid in einem altrosa Farbton an. Mit zehn Minuten Verspätung traf ich vor dem Literatur-Café ein. Bereits nach nur fünf Minuten Verspätung meinerseits hatte Fabiano mich angerufen: »Wo bist du? Kommst du?« und wollte wissen, wo ich bleibe. »Ich bin gleich da!« Schwungvoll öffnete ich die Türe. Der Duft von aromatischem Kaffee und anderen erlesenen Köstlichkeiten schwallte mir entgegen. Ich sah mich im Café um, da winkte er mir schon zu.
»Was möchtest du trinken?« Wir suchten uns dazu eine Kleinigkeit zum Essen aus. Dann unterhielten wir uns angeregt über alle möglichen verschiedenen Themen. Von Tolstoi bis Rilke, über dies und das, über Gott und die Welt und mein Musiktheater-Projekt. Es war ein äußerst inspirierendes Treffen. Zwar war es etwas mühsam, ihm zu folgen und trotzdem – wir verstanden uns auf Anhieb. Es stellten sich ziemlich schnell einige gemeinsame Vorlieben und Interessen heraus.
»Diesen Winter werde ich auf Lanzarote verbringen. Dort habe ich einen Freund, der – ich möchte jetzt noch nicht zu viel versprechen – Künstler und deren Projekte fördert«, erzählte Fabiano. Er wollte ihm mein Musiktheater-Projekt vorstellen. Und um möglicherweise eine CD zu produzieren, wollte er von mir eine Kostenaufstellung der Produktionskosten haben.
Nach gut drei Stunden hatten wir beide noch eine andere Verabredung und ich versprach ihm, möglichst bald die Kostenaufstellung nach Lanzarote zu faxen. Wir verließen gemeinsam das Lokal und gingen in Richtung Ludwigstraße. Unterwegs kam uns zufällig Ferdinand entgegen. Das war einer seiner beiden Söhne. Fabiano del Chiero stellte uns gegenseitig vor, dann trennten sich vorerst unsere Wege.
Es war nicht so einfach, die Kosten für eine CD, mein Theater-Projekt betreffend, zu recherchieren. Aber schlussendlich schaffte ich es nach einigen Tagen und versuchte, Fabiano in Lanzarote zu erreichen.
In dem kleinen Ort, in dem ich wohnte, herrschte strengster Winter. Als ich Fabiano anrief, um mir die Fax-Nummer geben zu lassen, erzählte er mir, wie schön warm es auf Lanzarote sei. »Hier liegen meterhohe Schneeberge und es ist bitterkalt!« beklagte ich mich und beneidete ihn. »Komm doch nach Lanzarote«, lud er mich ein.
»Oh ja, das wäre fantastisch! Habt ihr auch ein Klavier auf der Insel?«, fragte ich ihn und freute mich über seine spontane Einladung. »Dann würde ich sofort kommen. Denn ich müsste dringend die Kompositionen meines Opernmusicals korrigieren, und was wäre schöner, als dies auf einer inspirierenden Insel zu tun?!« Fabiano meinte, dass es auf der Insel ganz bestimmt die Möglichkeit dazu gäbe. Wäre es nicht herrlich, ins Warme zu flüchten?
LANZAROTE I
Spontan buchte ich einen Flug nach Lanzarote. Wie aufregend! Urlaub in Kombination mit meiner Arbeit. Das hatte ich mir schon immer gewünscht. Die erste Einladung nach Lanzarote, und ich freute mich schon sehr auf ein warmes Klima.
5. März
Flug nach Lanzarote – dem grässlichen Winter entfliehen für eine Woche! Wie herrlich!
Eine