Ein eigenes kreatives Projekt, in das ich mein ganzes Herzblut steckte und an dem ich schon seit einigen Jahren arbeitete, fraß die restliche Zeit, die ich noch übrighatte. So jonglierte ich mich durch meine Engagements, mit denen ich mein tägliches Leben finanzierte – und alles, was ich übrig hatte, steckte ich in mein Herzens-Projekt.
Immer wieder schoben sich mein Traum und das Bild von dem Einhorn zwischen meine Gedanken. »Vielleicht sollte ich es malen«, überlegte ich, und rätselte, was dieses mythologische Fabelwesen wohl für eine Bedeutung für mich hatte. Nur allzu gerne verlor ich mich in dieser Art von Gedankenspielereien. Trotzdem kam ich zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis.
Spontan fuhr ich am nächsten Tag zu meinem Lieblings-Fachhandel für Künstlermaterialien und kaufte mir eine große quadratische Leinwand. Obwohl ich mit Farben und Pinseln zu Hause gut ausgerüstet war, konnte ich nicht widerstehen und ließ mich von all den Farben und Malutensilien inspirieren. Wie immer konnte ich mich nicht bremsen, kaufte viel zu viel und deckte mich mit Farben, ausgefallenen Pigmenten und Pinseln in allen Größen ein. Voll innerer Vorfreude fuhr ich gut gelaunt nach Hause.
Meistens hatte ich viel zu wenig Zeit, um zu malen. Doch im Malen fühlte ich mich frei. Frei von allzu großen Ansprüchen, die ich sonst in meiner Musik hegte. Frei auch deshalb, weil ich die Malerei nicht studiert hatte und alles nach Lust und Laune ausprobieren konnte.
Ich liebte es, wenn sich mein Wohnzimmer in ein Atelier verwandelte. Der Duft der Farben, des Leinöls, mit dem ich meine Pigmente anmischte, sogar der intensive Geruch des Pinselreinigers verursachten mir wohlige Schauer. Interessanterweise bleibt beim Malen die Zeit stehen. Wie aus einer fernen Welt vergesse ich alles um mich herum. Das Faszinierende in der Malerei ist – im Gegensatz zu der Musik – das Immerwährende, Präsente, Sichtbare. Jeder noch so kleine Punkt und jeder Pinselstrich auf der Leinwand ergibt eine deutlich wahrnehmbare Veränderung! Außerdem kann man ein Bild an die Wand hängen und es immerzu anschauen. Und es bleibt. Zumindest, solange es an der Wand hängt – während die Musik immer sofort verfliegt!
Schade, dass ich meine Musik nicht an die Wand hängen kann, um sie »anzuschauen«. Immerzu in Bewegung wandert sie an einem vorbei. Geht zum einen Ohr hinein und fliegt zum anderen Ohr wieder hinaus. Dann ist es wieder still, außer es bleibt ein kleiner Ohrwurm hängen, der einen über den Tag hinweg begleitet.
Während des Malens jedoch kann man nebenbei Musik hören und sich davon inspirieren lassen. Doch während man übt oder komponiert, kann man leider keinen weiteren Tätigkeiten nachgehen. »Welch ein glückliches Leben musste so ein Maler doch haben!« seufzte ich.
Dennoch bin ich eine Vollblutmusikerin. »Musik ist ihr Leben«, schrieb einmal ein Journalist über mich. In einer Welt zu leben ohne Musik, die ich liebe, wäre für mich unvorstellbar. Die Musik existiert außerhalb der Zeit. Es ist faszinierend, was Musik alles vermag: Der Takt, die Melodie, das Singen – das alles kommt aus uns, aus unserem Körper heraus. Ich weiß, Malen und Schreiben kommen auch aus uns heraus. Musik aber ist der Ursprung! Wir singen, wenn wir geboren werden. Die Musik gibt dir die Möglichkeit, für jeden Teil deines Lebens, für jeden Moment, für jede Emotion den entsprechenden Takt, die entsprechende Melodie zu finden, die dazu passt. Musik ist für mich die bessere Welt. Sie verzaubert das Leben, das oft viel zu kompliziert und beängstigend ist. Ich weiß nicht, wie die Wirklichkeit zu ertragen wäre ohne dieses Paralleluniversum. Ich glaube sehr an die Welt der Musik. Vor allem bewegt mich das, was wir in ihr erfahren und fühlen können. Ich gehe davon aus, dass wir alle Musik in uns tragen. Unsere Seelen enthalten Musik. Und wenn wir Musik hören, die uns berührt, verbindet sich die Seele mit der Musik, die wir in uns tragen, und nährt uns.
Stolz stellte ich die große Leinwand auf meine Staffelei und legte eine CD von Debussy ein. Ich fand, dass diese Musik gut zu meinem Traum passte, und lauschte den expressionistisch transparenten Klängen.
Nun gut – wie aber malt man ein Einhorn? Außer diesem einen in meinem Traum war mir natürlich noch keines in meinem Leben begegnet. Kein leichtes Unterfangen. Wochenlang kreiste ich um meine Staffelei, ohne einen einzigen Pinselstrich zu tätigen. Das Prozedere kannte ich bereits. Man hat eine Idee im Kopf und braucht oft Wochen, manchmal sogar Monate, um beginnen zu können. Man schleicht wie »die Katze um den heißen Brei«, sammelt Ideen und folgt seinen Inspirationen. In der Musik ist das genauso.
So spazierte ich jeden Tag zu der nahegelegenen Koppel, auf der Pferde grasten. Tief sog ich den Duft der Wiese und den Geruch der schnaubenden Pferde ein. Ein Pferd ist zwar kein Einhorn, doch eine gewisse Ähnlichkeit vielleicht nicht zu verleugnen. Stundenlang stand ich unbeweglich an einer Stelle, beobachtete ihre Bewegung, studierte die Statur, die Form, den Ausdruck der Augen, Ohren und Nüstern. Und wartete. Geduldig wartete ich auf meinen ersten inneren Impuls. Eines sonnigen Tages, als ich schon fast aufgeben wollte, weil ich glaubte, dass mich meine Kreativität nun gänzlich im Stich gelassen hätte, war er dann plötzlich da. Der Impuls! Endlich konnte ich beginnen, das Einhorn zu skizzieren. Danach begann ich peu à peu die Farbe auf die Leinwand aufzutragen.
Tag für Tag näherte ich mich dem Bild aus meinem Traum. Es war ein faszinierender und spannender Prozeß. Und plötzlich, nach langen Wochen des Schaffens, war es vollbracht.
Mein Traum – das Einhorn – war festgehalten auf der Leinwand.
Mit seinen funkelnden und schillernden Augen wirkte es in seiner Einfachheit besonders apart. Mir gefiel es. Ebenso meinen Freunden, die vorbeikamen. Das Einhorn erfreute sich großer Beliebtheit. Über die zahlreiche Resonanz und die Tatsache, dass einige mir das Bild gleich abkaufen wollten, war ich selbst überrascht. Aber aus einem unerfindlichen Grund zögerte ich und behielt das Gemälde.
GINA
Ein Bild zu malen ist fast wie ein kleiner Urlaub. Eine Oase in der Wüste des Alltags. Leider bleiben in der Zeit, in der man malt, alle anderen alltäglichen Dinge liegen. Dann fällt es mir sogar schwer, zum Einkaufen zu gehen. Einen kreativen Prozess zu unterbrechen ist für mich schier unmöglich. Selbst das Essen vergesse ich in dieser Zeit. Es ist wie ein Balanceakt auf einem Hochseil. Ich kenne kaum einen Künstler, der sich mit Leichtigkeit zwischen diesen zwei unterschiedlichen Welten bewegen kann. Entweder leidet der Alltag oder es leidet die Kunst.
Mein Telefon klingelte. Es war Gina, eine Malerin mit einem eigenen Künstlerhaus. Ihre Galerie und das angeschlossene Art-Hotel hatten ein außergewöhnliches Flair. »Kann ich dich zu einer prominenten Hochzeit engagieren?« fragte sie mich. Ich blätterte in meinem Terminkalender. Die Auftritte und Atmosphäre in ihrer Galerie genoss ich immer besonders. Außerdem kochte ihr Lebensgefährte Alexander à la haute cuisine. Wenn ich dort auftrat, bemühten sich die beiden immer außerordentlich um mein „leibliches“ Wohlergehen. In dem sehr speziellen Ambiente des Künstlerhauses waren stets ungewöhnliche und phantasievolle Kunstobjekte von verschiedenen Künstlern ausgestellt. Und so manches Mal tauschte ich meine Gage gegen das ein oder andere Kunstobjekt ein, wenn ich es mir leisten konnte.
Gina, eine sehr quirlige Person mit schulterlangen schwarzen Haaren, hatte viel Temperament und war ein Organisationstalent. Außerdem hatte sie einen erlesenen Geschmack für Kunstgegenstände und wie man diese stilsicher platziert. Sie hatte dunkle, fast schwarze Augen, mit denen sie ihrem Gegenüber auf den Grund der Seele zu blicken schien. Ihre Augen blitzten verräterisch, wenn sie einen Song erkannte, und oft stellte sie sich dann zu mir an den Flügel, um mitzusingen. Man mochte sie auf Anhieb.
Da ich den Termin noch frei hatte, sagte ich ihr gleich zu.
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An diesem frühen Abend war das Fest schon gut besucht und wie immer super organisiert. Gina und Alexander achteten darauf, dass es mir auch diesmal an nichts fehlte, und so bekam ich gleich zur Begrüßung einen Apéritif. Ich schlenderte mit meinem Glas in der Hand durch die Räume und betrachtete die ausgestellten Kunstwerke. Sofort fielen mir die verschiedenen Postkarten auf, die überall »herumlagen«. Ich stutzte – eine Karte zog mich magisch