»Ein bisschen, aber es ist wohl eher eine Mischung aus seinem Sohn und ihm selbst«, vermutete Gina, »aber jetzt ist der Maler schon um einiges älter und nicht mehr ganz so attraktiv wie auf der Postkarte.«
Das Bild auf der Postkarte beeindruckte mich so stark, dass ich den dringenden Impuls verspürte, diesen Maler unbedingt kennenlernen zu müssen. Eigenartig. Für mich war das eher untypisch. Natürlich hatte ich schon immer eine Liebe zur Malerei, und Maler kannte ich wie Sand am Meer. Aber noch nie hatte ich das Bedürfnis verspürt, die Bekanntschaft eines Malers aufgrund seiner Postkarte machen zu wollen. Lag es an dem Einhorn, das ich selbst gemalt hatte? Oder an dem Traum, der so eine tiefgründige Lebendigkeit ausstrahlte?
Gedankenverloren nippte ich an meinem Apéritif. Er schmeckte süß und trocken zugleich. Im Hintergrund meinte ich, eine Note von Brombeeren und Granatapfel herauszuschmecken. Ich kenne viele Maler persönlich. Was war es, das mich so eigentümlich anzog? Das Gefühl war ziemlich stark.
»Du kannst ja zur Finissage am 15. Oktober kommen, wenn du Zeit und Lust hast,« lud Gina mich ein, und riss mich aus meinen Gedanken.
»Ja gerne, warum nicht …?«, antwortete ich höflich. Insgeheim wusste ich, dass mir dazu die Zeit fehlen würde. Gina hatte mich schon oft privat eingeladen. Außerdem ging ich privat nie gerne auf Veranstaltungen. Aus irgendeinem Grund merkte ich mir das Datum der Finissage trotzdem.
Nach dem gelungenen Auftritt mit einem begeisterten Publikum setzte ich mich zufrieden in mein Auto und fuhr nach Hause. Die Hochzeit der Tochter von Hugendubel war erfolgreich über die Bühne gegangen, die Gäste waren begeistert. Wie schön! Morgen konnte ich ausschlafen. Das Datum der Finissage, noch in weiter Ferne, schlich sich aus meinem Gedächtnis.
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Es warteten wieder meine täglichen unzähligen Aufgaben auf mich. Drei bis vier Tage in der Woche gab ich Privatstunden für Klavier und Gesang. Auf meine Schüler konnte ich stolz sein. Der größte Teil von ihnen war talentiert und äußerst motiviert. Einige waren Preisträger von Wettbewerben. Einige andere spielten sogar mit dem Gedanken, Musik zu studieren. Oft bedeutet das eine jahrelange disziplinierte Vorbereitungsphase, wenn man die Aufnameprüfung an einer Hochschule bestehen wollte. Aus diesem Grund musste ich ziemlich streng, beziehungsweise absolut konsequent sein. Ich liebte sie alle, meine Schüler, und sie liebten mich. Manche von ihnen hatten kleinere Ambitionen und wollten an ihrem Selbstwertgefühl feilen und ihr Selbstbewusstsein stärken. Egal, ob jung oder schon älter – für mich ist es ein Privileg, das Potential aus einem Menschen herauszulocken. Außerdem finde ich es wichtig, dass Künstler nicht nur auf der Bühne glänzen, sondern ihr Können auch weitergeben.
FINISSAGE
Eines Morgens fiel mir die Postkarte mit dem Einhorn wieder in die Hände. Ich drehte sie um. Auf der Rückseite stand das Datum der Finissage. Sie war bereits morgen! Tatsächlich hatte ich überhaupt keine Zeit hinzugehen! Zu Gina bräuchte ich mit dem Auto eine gute Stunde hin und genauso lange wieder zurück.
Am nächsten Tag – es war der 15. Oktober – ging ich wie gewohnt meinen Aufgaben nach. »Soll ich nun auf die Finissage fahren oder nicht?«, überlegte ich laut. Ich schüttelte den Gedanken gleich wieder ab. »Nein!« Meine innere Stimme legte energisch Veto ein. » Du hast noch viel zu viel zu tun.« Eine ellenlange Liste wollte noch abgearbeitet werden. Ich entschied mich, nicht zu fahren.
Gedankenverloren räumte ich ein paar Dinge von der einen Ecke in die andere und ging in mein Schlafzimmer. Ich zog mich um und sah mich plötzlich verwundert im Bad vor dem Spiegel stehen, als würde ich mich gleich schminken wollen. Stirnrunzelnd schaute ich mein Spiegelbild an und kämpfte mit mir.
»Nur eine gute Stunde Fahrtzeit hin und eine wieder zurück«, säuselte mein vergnügungssüchtiger penetranter Schweinehund. »Bist du verrückt? Du wirst doch deine kostbare Zeit nicht mit „durch die Gegend fahren“ verschwenden.« Die pflichtbewusste Stimme gewann wieder Oberwasser. Genervt von meiner Unentschlossenheit spielte ich ein paar Skalen rauf und runter. Ich konnte mich nicht konzentrieren und sortierte stattdessen meine Noten. Wie ferngesteuert und nicht ich selbst setzte ich mich in mein Auto und stieg wieder aus. »Bereite lieber deinen nächsten Auftritt vor«, schnaubte mein Verantwortungsgefühl. Ergeben ging ich zurück ins Haus, setzte mich an meinen Flügel, um zu üben. Gegen 18: 06 Uhr saß ich, auf mysteriöse Weise gedrängt, wieder in meinem Auto, um nach Murnau zu fahren. »Was soll's – ich gönne mir einen schönen Abend – mal ganz privat«, fegte ich alle Einwände weg und fuhr siegessicher los.
Nach einem Kilometer drehte ich wieder um und fuhr zurück. »Ja, bin ich denn noch zu retten?« So kannte ich mich gar nicht. Nun war ich wieder zu Hause. Wusste nicht mehr, was ich hier tun sollte, stieg zum dritten Mal in mein Auto und fuhr endgültig los. Irritiert von meinen widersprüchlichen Gefühlen schüttelte ich meinen Kopf.
Nach einer guten Stunde kam ich im Künstlerhaus an. Gina und Alexander freuten sich sichtbar über mein überraschendes Kommen: »Wie schön, dich auch einmal privat zu sehen! Schau dich doch schon einmal um.« Sie brachten mir einen Apéritif.
Ich schlenderte von Bild zu Bild und ließ die Gemälde auf mich wirken. Der Maler hieß Fabiano del Chiero. Die Bilder gefielen mir und berührten mich eigentümlich. Etwas zog mich magisch an. Wenngleich ich noch nicht genau beschreiben konnte, was genau es war, was mich so faszinierte. Die Gemälde hatten eine geheimnisvolle Ausstrahlung und waren zum Teil erotisch. Jedes für sich erzählte eine eigene Geschichte. Erstaunlicherweise bewirkten die Bilder, dass die Distanz vom Betrachter zum Bild verschwand. Das hatte ich so noch nie erlebt. Und ich kannte, wie schon gesagt, einige Maler und deren Bilder.
Aus der Küche umschmeichelte ein köstlicher Geruch meine Nase. Alexander war wieder in seinem Element. Er hatte eine große Schürze umgebunden, und hantierte klappernd zwischen seinen Kochtöpfen. Zwischendurch schmeckte er die Speisen ab und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Rotweinglas, das stets griffbereit neben dem Herd stand.
Ich nippte in Gedanken versunken an meinem Glas Prosecco mit Holunderblütensirup, der mir fast zu süß war, als Gina zu mir kam. »Komm mit«, forderte sie mich auf und zeigte mir den Maler, der sich gerade angeregt mit einigen Leuten unterhielt. Als ich ihn sah, hatte ich sofort dieses seltsame Gefühl, welches ich schon aus anderen Situationen kannte.
»Warte kurz, ich stelle euch gleich einander vor«, sagte sie, bevor sie wieder weggerufen wurde, und ließ mich stehen. Ich fühlte mich etwas verloren und hing diesem eigenartigen Gefühl nach. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich andere Gäste beobachtete und auf Gina wartete.
Ich bewunderte Gina, wie sie das hier alles bewältigen konnte. Sie hatte die Galerie mit immer wechselnden Ausstellungen, ausgefallenen Festivitäten und exquisiten Feiern plus das angeschlossene Art-Hotel. Manchmal, wenn Not am Mann war, stellte sie sich sogar noch zu Alexander in die Küche, um eine Vorspeise oder ein Dessert zu kreiieren. Ihre Gäste begrüßte sie stets persönlich und geistreich und hielt liebenswürdige Ansprachen. Zudem pflegte sie ihren umfangreichen Kundenstamm, suchte immer nach dem Besonderem in den Künstlern, die sie ausstellte, und hatte einen treffsicheren Geschmack für das Außergewöhnliche. Ich glaube, die Künstler hatten es nicht leicht, ihrem hohen künstlerischen Anspruch gerecht zu werden. Dabei war sie selbst eine ausgezeichnete Malerin. Ihr Malstil und ihre Bilder gefielen mir. Sie tauchte tief in die symbolhafte Mythologie ein und malte themenbezogene Bilder. Als sie wieder bei mir war, fragte ich sie: »Wie schaffst du das eigentlich alles? Woher nimmst du noch die Zeit und Inspiration zum Malen? Bei all der Organisation, die du hier am Hals hast.« Sie lächelte: »Ich habe Alexander! Er geht zum Einkaufen, er kocht – und ich kann delegieren.« Und schon eilte sie wieder weg.
Diesmal wollte ich nicht auf sie warten und beschloss, mich dem Maler selbst vorzustellen und ihm kurz ein Kompliment über seine Bilder zu machen. Danach wollte ich sofort wieder nach Hause