Für New Yorker Verhältnisse war Teresas Wohnung sehr groß. Clive schätzte sie über den Daumen auf etwa hundertzwanzig Quadratmeter.
„Was machen Sie beruflich?“, fragte Clive.
„Ich bin Mutter“, erwiderte Teresa. „Ist das nicht auch ein Beruf?“
„Keiner von dem man sich so eine Wohnung leisten kann.“
„Ich dachte, ich wäre nur eine Zeugin und keine Verdächtige.“
„Das ist richtig.“
„Außerdem haben Sie behauptet vom FBI und nicht von der Steuerfahndung zu sein. Ich weiß also nicht, was Ihre Fragen jetzt sollen!“
„Es geht um den Vater Ihres Kindes: Shane Kimble.“
„Das hätte ich mir ja denken können“, murmelte sie. Sie setzte den Kleinen auf den Boden, woraufhin er in den Nachbarraum lief. Teresa verschränkte die Arme vor der Brust und sah Clive direkt in die Augen. „Was wollen Sie Shane denn noch anhängen? Reicht es nicht, dass er für den Rest seines Lebens seinen Sohn nur alle vier Wochen einmal sehen kann? Reicht es nicht, dass Sie ihn nach einem fadenscheinigen Prozess voller Ungereimtheiten verurteilen und lebenslang wegsperren können?“
„Ich will ihm nichts anhängen“, sagte Clive. „Ganz im Gegenteil. Ich möchte ihm helfen.“
„Pah, dass ich nicht lache!“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich ab. Tränen des Zorns stiegen ihr in die Augen. „Ich kann mir schon denken, wie diese Hilfe aussieht! Am Ende wird Shane der Dumme sein und noch schlimmer im Dreck sitzen, als jetzt schon! So enden diese Spielchen doch immer! Na, nur heraus damit! Welche Tricks hat sich die Staatsanwaltschaft denn jetzt ausgedacht, um ihm das Leben zur Hölle zu machen?“
„Es geht um den Mord an Staatsanwalt James Longoria. Sie werden davon gehört haben.“
„Es war unmöglich, nichts davon zu hören“, erwiderte Teresa. „Die Lokalnachrichten im Fernsehen waren davon genauso voll wie die New Yorker Zeitungen und das Radio. Sogar in den überregionalen Networks haben sie davon eine Meldung gebracht.“
„Dann wissen Sie ja, wovon ich rede.“
„Ja – und soll ich Ihnen was sagen? Ich bedaure es kein bisschen, dass es diesen arroganten Sack erwischt hat! Ich sehe ihn noch im Gerichtssaal vor mir. Damals hätte ich ihn umbringen können...“
„Vielleicht sollten Sie überlegen, ob Sie jetzt vielleicht lieber einen Anwalt dabei haben möchten“, mischte sich Orry in ruhigem Tonfall ein.
Sie atmete tief durch und fügte dann hinzu: „Das war damals. Der Zorn ist inzwischen verraucht. Außerdem würde ich so etwas nie tun.“
„Was?“
„Einen Menschen umbringen. Das könnte ich nicht. Selbst jemanden wie Longoria nicht. Außerdem trifft ihn nicht die Hauptschuld.“
„Wen dann?“
„Na, Dustin Jennings natürlich. Um selber nur wegen eines minderschweren Vergehens angeklagt zu werden und schon nach wenigen Jahren wieder raus zu kommen, hat er Shane belastet und dafür gesorgt, dass er lebenslang hinter Gitter kommt. Longoria hätte doch gar nichts gegen ihn in der Hand gehabt, wenn Jennings nicht gewesen wäre! Auf seiner Aussage basierte die Anklage und als klar war, dass sich das Blatt zu Shanes Ungunsten wenden würde, sind natürlich auch andere Zeugen plötzlich umgefallen und haben sich gedacht: Dem können wir ruhig noch mal ans Bein pinkeln, bevor er weggesperrt wird!“
Eine Pause des Schweigens entstand.
Clive entschloss sich, zum eigentlichen Ausgangspunkt des Gesprächs zurückzukehren und noch mal ganz von vorn zu beginnen. Teresa Johnson hatte sich in Rage geredet und wenn bei dieser Befragung noch etwas herauskommen sollte, dann war es an Clive, dafür zu sorgen, dass ihre kochende Seele wieder auf Normaltemperatur herunter gekühlt wurde.
„Shane Kimble wurde damals auf Grund von Jennings’ Zeugenaussage angeklagt, das ist richtig. Aber diese Aussage wurde von weiteren Zeugen bestätigt. Außerdem gab es Sachbeweise dafür, dass Kimble am Tatort war.“
„Aber die Justiz hat damals nie die Mordwaffe gefunden!“
„Genau um die geht es jetzt!“, erklärte Orry. „Mit derselben Waffe, mit der Shane Kimble damals gegen seine Konkurrenz vorgegangen ist, wurde auch Longoria ermordet. Ihnen ist doch klar, welchen Schluss wir daraus ziehen müssen.“
„Sie glauben, dass Shane den Mord an Longoria in Auftrag gegeben hat!“, begriff sie sofort.
„Wir müssen das zumindest als Möglichkeit in Betracht ziehen. Der Vater ihres Kindes liebt theatralische Auftritte – und wenn der Mann, den er für seine Verhaftung verantwortlich machte und deswegen abgrundtief hasste mit einer Waffe erschossen wird, die Longoria damals im Prozess vergeblich aufzutreiben versucht hat, dann ist die Symbolik doch eindeutig – ein später Triumph über den Prozessgewinner im Gerichtssaal.“
Sie hielt Clive ihre Hände über Kreuz hin. „Dann sollten Sie mich auch als Verdächtige betrachten. Schließlich hätte ich genauso ein Motiv, so etwas zu veranlassen!“
„Wir wollen einfach nur wissen, wo die Waffe damals geblieben ist. Dazu gibt es keine vernünftige Aussage in den Prozessunterlagen.“
„Und das fragen Sie ausgerechnet mich?“
„Vielleicht hat Shane Kimble mit Ihnen darüber gesprochen, Miss Johnson. Damals hätten Sie ihm vielleicht geschadet, wenn Sie sich darüber der Polizei oder dem Richter gegenüber geäußert hätten - aber jetzt wohl kaum noch. Shane Kimble sitzt so oder so lebenslänglich, aber falls es jemanden gibt, der ihm vielleicht nur etwas in die Schuhe schieben will, könnten Sie uns helfen, demjenigen einen Strich durch die Rechnung zu machen.“
„Sie würden uns gleichzeitig zeigen, dass nicht Sie selbst diejenige sind, die damals die Waffe aufbewahrt hat!“, ergänzte Orry.
„Dafür haben Sie keine Beweise. Und Sie werden auch keinen Richter finden, der mich auf Grund derart vager Anschuldigungen in Haft nimmt...“
Teresa Johnson ging zu dem Telefon, das auf einer Anrichte stand und nahm den Hörer ab.
„Wen rufen Sie an?“, fragte Clive.
„Meine Anwältin.“
„Heißt die zufällig Cheyenne Masters?“
„Ja. Wieso?“
„Sie vertritt auch Shane Kimble – und Sie sollten sich gut überlegen, ob Ihre Interessen im Moment wirklich identisch sind.“
„Außerdem haben Sie Recht“, fügte Orry hinzu. „Wir finden im Moment sicher keinen Richter, der einen Haftbefehl für Sie unterschreibt. Aber es könnte sein, dass die Besuche von Ihnen und Ihrem Sohn auf Rikers Island jetzt ein Ende haben!“
Teresa Johnson legte den Hörer wieder auf. „Hören Sie, ich habe mit dem Mord an Longoria nichts zu tun, warum ruinieren Sie mich?“
„Inwiefern ruinieren wir Sie denn?“, hakte Clive mit gerunzelter Stirn nach.
Sie atmete tief durch, lief einmal quer durch den Raum und ließ sich dann in einen der Polstersessel fallen. Das Kind kam herbeigelaufen und wollte ihr ein Spielzeugauto zeigen. „Jetzt nicht“, sagte sie gereizt, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm in den Nachbarraum.
Wenig später kehrte sie zurück.
Sie strich sich das Haar zurück und vermied den direkten Blickkontakt. Vorsichtig schloss sie die Tür zum Nachbarzimmer hinter sich. „Also gut“, sagte sie schließlich. „Ich werde aussagen. Alles, was ich weiß – aber nur dann, wenn nichts an der Besuchsregelung geändert wird!“
„Das liegt erstens nur bedingt in unserer Hand und zweitens geschieht das auch nur, falls sich die Verdachtsmomente